jeden Tag eine Geschichte
Tiefenangst

Tiefenangst

3

Jack maß den Abstand der Leitersprosse zum Boden, seine Fingernägel kratzten nervös an der eisigen Metallstange. Vor seinen Augen tanzten Millionen von Funkeln, die von den Wassertropfen auf den moosigen Steinen kamen. Ein dumpfes, stetiges Rauschen dröhnte um ihn herum. Es war die echohafte, gruselige Stimme der Höhle, die den eingedrungenen Fremdlingen ihren Schrecken vermittelte.

Leise flüsterten seine Freunde unten am Boden. Es war das erste Mal, dass er die Hölie betrat. Die „Tiefenangst“, wie sie die Angst vor den unerforschten Tiefen nannten, kroch ihm hoch. Doch er zwang sich, den folgenden Schritt zu tun. Das Abenteuer rief, und die jugendliche Dummheit konnte laut sein.

Je tiefer er kam, desto frostiger wurde die Luft, welche ihm die Lunge durchbohrte. Er konnte riechen, wie altes Wasser die Gesteine benetzte, den Geruch von Tropfsteinen und feuchter Kühle. Es waren die Ausdünstungen eines lang vergessenen Ortes, der nur von Dunkelheit bewohnt wurde.

Nach ewigem Hinabsteigen erreichten sie den Grund. Ihre Stirnlampen waren die einzigen Lichtquellen, die umherirrende Schatten an die kalte Steinwand warfen. Die sonst so mutigen Freunde sprachen kaum ein Wort, nur das schwache Echo ihrer Schritte und der fallenden Wassertropfen brachen die erdrückende Stille.

Wie durch einen unsichtbaren Vorhang wurden die Geräusche der äusseren Welt gekappt. Die tiefe Schwärze der Höhle schien alles zu verschlucken. Sie bewegten sich weiterhin, während zuerst ein sanftes Brummen, fast unhörbar, durch die Höhle hallte. Dieses Brummen wurde lauter, grimmiger, bis es zu einem ohrenbetäubendem Dröhnen wurde, das in ihren Brustkörben widerhallte.

Die Tiefe war zum Leben erwacht.

Das steinharte Herz der Höhle schlug in aller Wut aus der Tiefe, die dichte Dunkelheit hatte begonnen, zu brodeln. Die Freunde drängten sich zusammen, starr vor Angst. Augen, gross wie Mondsicheln, strömten in die Szene. Lumineszierend, hypnotisierend, horrend.

Jack sprintete. Die gnadenlose Dunkelheit ergoss sich in unbekannter Raserei um ihn herum. Seine Beine fühlten sich wie Gummi an, dabei hoffte er inständig, die Leiter wiederzufinden. Nichts als klaustrophobische Dunkelheit und das dröhnende Brüllen aus der Tiefe umgaben ihn.

Er erfasste die kalte Metallstange. Er kletterte, als ob sein Leben davon abhing. Und im wahrsten Sinne des Wortes hing es tatsächlich davon ab. Höher und höher, doch die Dunkelheit wollte ihn nicht entlassen. Bis ihm plötzlichen warmes Licht in die Augen stach. Er hatte es geschafft. Mit letzter Kraft zog er sich hinauf und stürzte auf den moosbedeckten Boden.

Die Sonne wärmte sein Gesicht, Vögel sangen in Bäumen und Grillen zirpten im warmen Sommerwind. Es wirkte wie ein neugeborener Welt – lebendig und schön. Aber die Leiter, auf der er gerade gekrochen war, wartete immer noch, jederzeit bereit, ein weiteres Opfer in die gierige Dunkelheit hinein zu füttern.

Jack zitterte, als er in die Tiefe blickte. Er spürte immer noch die flackernden Augen auf seiner Haut, hörte das tobende Brüllen in seinem Kopf. Doch als er sich umblickte, war er allein. Seine Freunde waren nirgendwo zu finden. Nur die Leiter ragte aus dem finsteren Schlund und zeigte stumm in den unergründlichen Abgrund.

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