jeden Tag eine Geschichte
Tiefe Schatten

Tiefe Schatten

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Sie fällt aus ihrem Schlaf – der Wecker zeigt 03:03 Uhr und draußen herrscht tiefe Dunkelheit. Tastend findet Emilia den Lichtschalter und blinzelt, bis ihre Augen sich an das grelle Licht des schlafzimmerlichen Leuchters gewöhnen.

Es ist nichts Ungewöhnliches, dass sie in der Nacht aufwacht, ein leichter Schlaf hat sie immer schon ausgezeichnet. Heute jedoch ist es anders. Die Dunkelheit außerhalb ihres Schlafzimmers scheint düsterer, bedrohlicher. Sie schluckt schwer und geht langsam zu den großen Fenstern, die den Blick auf den kleinen, von hohen Mauern umsäumten Hinterhof freigeben.

Emilia rafft den schweren Vorhang beiseite und schaut in den Hof: Regungslos, wie eine Wachfigur, steht dort ein nicht identifizierbares Wesen. Ein kalter Schauer läuft ihr den Rücken hinab. Sie tritt einen Schritt zurück und zwingt sich, erneut hinzusehen – nichts ist dort.

Relief fließt durch ihren Körper, sie schüttelt den Kopf. Du bist nur übermüdet, sagt sie sich und wirft einen letzten Blick aus dem Fenster, bevor sie sich umdreht, um ins Bett zurückzukehren. In dem Moment, als sie sich abwendet, fängt sie einen Bewegungsschatten auf und dreht sich ruckartig um. Wieder nichts. Sie schlägt die Hand vor den Mund, um ihren Atem zu dämpfen, sie will nicht schreien. Mit reißenden Augen starrt sie auf die Dunkelheit außerhalb ihres Fensters, die plötzlich viel gefährlicher scheint.

Nach einigen langen Minuten entscheidet sie, dass sie genug hat. Rasch fällt der Vorhang zurück an seinen Platz, sie zwingt sich, nicht zurückzublicken. Sie muss schlafen, sie hat morgen Arbeit. Sie schaltet das Licht aus und klettert zurück ins Bett. Ihre Augen schließen sich widerwillig, doch der Schlaf kommt schnell.

Ein Geräusch weckt sie auf. Ein leises Kratzen, als würde jemand über ihre Schlafzimmerfenster fahren. Ihre Herzschläge hämmern in ihren Ohren, als sie sich aufsetzt und versucht, in der Dunkelheit irgendetwas auszumachen. Ihre Hand tastet nach dem Lichtschalter, findet ihn aber nicht. Panik steigt in ihr auf, während das Kratzen lauter wird. Plötzlich hört es auf, und ein dunkler Schatten schießt durchs Zimmer. Sie keucht und presst sich gegen die Wand hinterm Bett. Obwohl sie nichts sieht, spürt sie die dunklen Augen auf sich gerichtet.

‚Schlagartig wird alles still. Dann hört sie ein leises Wispern, es klingt fast wie ein Gebet. Ihr Herz rast, während sie sich die Decke über den Kopf zieht. Sie hört die Schritte näher kommen, jetzt sind sie direkt neben ihrem Bett. Sie hält die Luft an und wartet. Und plötzlich ist alles wieder still. Ihr ist, als würde sie in tiefes, schwarzes Wasser getaucht. Sie wartet ab, kann ihren eigenen Puls im Ohr trommeln hören.

Dann, fast unmerklich, beginnt sich die Decke, die sie so fest umklammert hat, zu bewegen. Mit großen, ängstlichen Augen starrt sie auf ihre Hände, die sich gegen ihren Willen öffnen. Die Decke wird hochgezogen, nicht von ihr. Unter der Decke ist es dunkel, sie kann nichts sehen. Doch sie hört es atmen, spürt, wie die dunkle Präsenz über ihr seine Arme ausstreckt. Sie sieht es nicht, schließt die Augen und schreit. Doch kein Laut kommt aus ihrer Kehle. Schwarze Dunkelheit umgibt sie, nimmt ihr die Luft zum Atmen. Und dann, ist alles still.

Draußen erhebt sich langsam die Sonne über dem Horizont, durchflutet das Schlafzimmer mit weichem Licht. Emilia liegt regungslos, die Augen weit aufgerissen, auf ihrem Bett. Ihrer Kehle entweicht ein gehauchtes ‚Wer?‘ bevor alles wieder still wird, nur durchbrochen vom leisen Ticken des Weckers, der 04:04 Uhr anzeigt.

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