jeden Tag eine Geschichte
Stille Wasser

Stille Wasser

1717

Die leuchtenden Augen der Stadt spiegelten sich auf der dunklen Oberfläche des Sees. Jake legte sein Handy beiseite und starrte hinaus auf das stille Wasser. Es war eine moderne Oase der Ruhe inmitten des Lärms und der Lichter, ein Refugium, das er immer kannte und doch nie wirklich verstand.

Ein Gerücht zirkulierte unter den Stadtbewohnern. Es hieß, der See sei von Geheimnissen getränkt. Moderne Legenden erzählten von verschwundenen Menschen, die niemals wieder auftauchten, ihre Spuren im Stadtgefüge erloschen wie die Lichter in den frühen Morgenstunden.

Jake schüttelte den Kopf. Es waren nur Geschichten, Mythen, um Kindern Angst zu machen. Oder nicht? Asche im Wind, mehr nicht. Als ob zur Bestätigung dieses Gedankens durchschnitt der Wind selbst die nächtliche Stille und wirbelte die unberührte Oberfläche des Sees auf.

Er hob sein Smartphone, um ein Foto der sich kräuselnden Wasser zu machen, aber etwas anderes ergab sich im Blickfeld der Kamera. Was zuerst eine Spiegelung im Wasser schien, formte sich jetzt zu einem Gesicht, das ihn direkt aus der Tiefe anschaute. Jake zuckte zusammen, ließ beinahe sein Handy fallen, als ein kalter Schreck seinen Körper überkam. Er blickte auf, doch das stille Wasser zeigte nur die Lichter der Stadt. Er sah zurück auf sein Handy, und das Gesicht blickte immer noch aus dem Wasserspiegel.

Es war alt und jung zugleich, ein Gesicht das seine Haut schrumpfen ließ, seine Magengrube sich knurrend zusammenziehen und seine Fingerspitzen kribbeln ließ. Es war furchteinflößend, wunderschön und unglaublich traurig.

Jakes Atem stockte, und das Bild des Gesichts verblasste, verwandelte sich wieder in die spiegelglatte, ungestörte Stille des nächtlichen Gewässers. Bilder schossen durch seinen Kopf, Schnipsel, Erinnerungen an Geschichten, Mythen, urbanen Folklore. Er griff nach seinem Handy, aber es war kalt und tot.

Überwältigt stolperte er zurück, seine Füße unsicher auf dem schlüpfrigen Gras. Die Dunkelheit war plötzlich erstickend, und das stille Wasser war nicht mehr einladend, sondern abweisend und bedrohlich.

Jake stolperte nach Hause, sein Kopf schwirrte, und sein Herz schlug einen rasenden Takt. Er erreichte seine Wohnung, schloss die Tür, schob den Riegel vor und stürzte ins Bett.

Doch Schlaf fand er nicht. Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, sah er das Gesicht, das aus dem stummen Wasser hervorkam. Es verfolgte ihn – in seinen Gedanken und in seinen Träumen. Unberührt vom modernen Leben pulsierte das stille Wasser mit den Geistern der Vergangenheit und zog ihn immer tiefer in seine eisigen Tiefen.

Stille Wasser. Bedrückende Stille. Tausend Geschichten, unwiderlegbar und unergründlich. Jake verstand jetzt. Der See war keine Oase, er war ein Gefängnis. Eines, das seine Geheimnisse hütete und diejenigen verschlang, die zu tief tauchten.

In der Moderne gibt es noch immer Orte, die von den Geistern der Vergangenheit bewohnt waren, Orte, in denen Stille und Dunkelheit mehr als bloße Abwesenheit waren. Jake hatte das stille Wasser gestört… und was auch immer es war, hatte zurückgeblickt.

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