jeden Tag eine Geschichte
Stille der Dunkelheit

Stille der Dunkelheit

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Nachts, wenn die Dunkelheit ihren Mantel über die Welt legte, setzte eine Stille ein, die nur von den stärksten Geistern gemeistert werden konnte. Claire gehörte nicht zu ihnen. Sie fürchtete die Dunkelheit und die Stille, die sie begleitete, weil sie wusste, dass sie nie wirklich allein war.

An vielen Nächten konnte sie das leise Summen hören, das ihr stets das Nagende Furchteinflößende Gefühl gab, dass sie beobachtet wurde. Auf vernünftige Stimmen hörte sie nicht mehr. Die rationale Seite ihres Gehirns hatte sie längst verlassen. Alles was ihr blieb, waren die Schrecken, die sie in ihrem Verstand beherbergte und das unbestimmte Gefühl der Gefahr. Eine schaurige Vision, ein gesichtsloser Eindringling, der sich im Schatten versteckt.

Sie versuchte oft, das satte Dunkel zu durchdringen, den Blick zu scharf stellen, um die Gestalt zu sehen, die sie spürte. Aber es war nutzlos. Die Dunkelheit beraubte sie jedes Gefühls für Raum und Zeit. Ihr Zuhause fühlte sich an wie ein endloser Labyrinthgang, in den sie immer tiefer hineingezogen wurde. Und doch, sie hielt sich wach, Angst vor dem Schlafen. Angst vor der Stille, die einläuten würde, dass sie endlich allein mit dem gesichtslosen Eindringling war.

Eines Nachts bestimmt die furchterregende Stille erneut die Atmosphäre. Die Dunkelheit schien sogar noch intensiver, noch erdrückender als sonst. Sie konnte tatsächlich ihre Anwesenheit, die Fremdheit in ihrem eigenen Zuhause spüren. Sie konnte ihr Herz hören, wie es gegen ihre Brust hämmerte. Ihr Atem wurde schneller, flacher, als sie ihr Licht ausschaltete. Jetzt war sie nur noch von der bedrückenden Dunkelheit und der stillen Atmosphäre umgeben.

Claire wusste es in dem Moment, in dem sie ihnen völlig ausgeliefert war, dass diese Nacht anders sein würde. Und dann hörte sie es.

Ein knapper, kaum wahrnehmbarer Ton fiel in das Schweigen. Claire hielt kurz inne, ihr Atem stockte. Sie hatte es wieder gesehen. Das Gesichtslose. Nur für eine Sekunde, als sie sich traute, die stille Dunkelheit mit ihren Augen zu durchdringen. Und dann war es wieder weg.

Sie wusste, dass sie nicht mehr alleine war. Der gesichtslose Eindringling war bei ihr. Mit ihr. Sie wusste, sie konnte nichts tun. Panik. Angst. Entsetzen. Aber sie konnte nicht entkommen. Nichts würde sie von der Dunkelheit befreien. Und von der Stille… von der Stille, die ihr rennendes Herz übertönte.

Gähnende Leere füllte ihren Verstand und ihr wurde bewusst, dass sie nie wirklich Angst vor der Dunkelheit hatte. Es war die Stille, die sie in Schrecken versetzte. Die Dunkelheit konnte ihr nichts anhaben. Aber die Stille… Die Stille war ihr größter Feind, weil sie die Dunkelheit zum Leben erweckte.

So wie an jenem Abend, als die Dunkelheit in ihre Welt floss und die Stille lauter wurde als je zuvor. Sie füllte ihren Verstand mit Bösem und ließ Dunkelheit und Einsamkeit Hand in Hand tanzen. Ihre schlimmste Furcht war von da an Wirklichkeit und sie wusste, dass sie nie wieder in Stille schlafen konnte…

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