Die Sonne ging unter und hüllte die Stadt in ein atmosphärisches Zwielicht. In der Ferne konnte man das sanfte Hupen eines Schiffes vernehmen, welches gerade in den Hafen einlief. In einem scheinbar verlassenen Lagerhaus, am Rande der Stadt, fand Callie, eine junge ehrgeizige Journalistin, einen vergilbten handgeschriebenen Brief.
„Der Spiegel ruht im Herzen dieser Stadt. Sieh hinein, doch sei gewarnt. Er zeigt nicht, wer du bist, sondern was du hättest sein können.“
Intrigiert und von dem Drang angetrieben, eine Schlagzeile zu landen, begann Callie mit ihrer Untersuchung. Ihre Bemühungen führten sie zu einer nahegelegenen Antiquitätenhandlung, die von einem alten Ehepaar betrieben wurde. Hinter Samt und Staub fand sie ihn – den Spiegel.
Er war von einer schlichten, fast unscheinbaren Eleganz, gehalten in einem gebeizten Mahagonirahmen. Doch das Spiegelbild veränderte sich, sobald sie hineinschaute. Statt ihrer eigenen Reflexion sah sie fremde Orte und Menschen, brutale Szenen und traurige Abschiede. Es war, als würde ihr eine alternative Realität aufgezeigt, in der sie ein Puzzleteil eines größeren Ganzen war.
Doch die Bilder im Spiegel wurden immer düsterer. Sie sah, wie ihre alternative Selbst durch Leid und Verzweiflung ging, an einem Punkt sogar darum bettelte, dass ihr Leiden enden möge. Callie spürte, wie sich Angst in ihrem Inneren ausbreitete.
Plötzlich erstarrte sie. Jetzt sah sie, wie ihre alternative Selbstsüchtig versuchte, ihre Familie, ihre Freunde, ihre Kollegen zu retten, doch es war vergebens. Jeder, den sie liebte, erlag dem Leid und der Dunkelheit. Verloren und allein, verging ihre alternative Selbst in Verzweiflung und Schmerz.
In völliger Panik stieß Callie den Spiegel um, der mit einem lauten Klirren zu Boden ging. Als sie sich über die Scherben beugte, war alles in Ordnung. Der Spiegel reflektierte nur ihr eigenes, aufgelöstes Gesicht.
Aber die Geräusche hörten nicht auf. Hinter ihr, aus den Schatten der Trödelstücke, konnte sie Flüstern und raues Kichern hören. Mit rasendem Herzen drehte sie sich um und starrte ins Dunkel. Augen – Dutzende von ihnen – sie wurden immer größer, immer näher und starrten sie an.
Sie wollte schreien, konnte aber keinen Laut hervorbringen. Gähnende Dunkelheit verschlang alles, und Callie stolperte rückwärts, die Augen weit aufgerissen vor Schreck.
Als sie schließlich erwachte, befand sie sich allein in der Antiquitätenhandlung. Der Spiegel war an seinem Platz, unberührt, die Scherben waren verschwunden. Die einzige Erinnerung an das bisherige Geschehen war der Brief in ihrer Handtasche.
Elend und ausgelaugt verließ Callie den Laden, fest entschlossen, die Geschichte nie zu veröffentlichen. Doch immer wenn sie einschlief, fühlte sie sie – die Augen an der Rückseite ihres Bewusstseins. Beobachtend. Wartend. Niemals vergessend.
Und so erkannte Callie, dass der wahre Schrecken nicht das war, was in dem Spiegel gezeigt wurde, sondern das, was sie selbst – in dieser oder in einer anderen Realität – fähig war zu tun.