jeden Tag eine Geschichte
Schwarzmond

Schwarzmond

1199

Lara stand im heruntergekommenen Dachgeschoss und öffnete mit zitternden Fingern das verlassene Teleskop. Die Zähne schlugen ihr vor Kälte aufeinander – und Vorfreude. Sie schaltete den Staubsauger ein, räusperte sich und richtete den Sternengucker auf das nachtschwarze Firmament.

Der Mond – ein zerrissenes, schwarzes Ding – hing stumm und leblos im Firmament. „Schwarzmond“, murmelte sie und spürte ein kaltes Prickeln, das ihr den Rücken hinab kroch. Sogar Gruselgeschichten hatten nicht so eine beklemmende Atmosphäre erzeugt. Doch dieses Erlebnis war echt. So echt, dass es ihre Haare aufstellte und sie schlucken ließ vor Unbehagen.

Während sie durch das Teleskop starrte, bildete sich allmählich eine Kontur – schwach, aber unbestreitbar menschlich. Es war eine Silhouette, die auf dem dunklen Mond ihren Blick zu suchen schien. Lara hielt den Atem an. Das war nicht möglich. Niemand, absolut niemand hätte auf dem Mond sein können.

Die Gestalt bewegte sich, stolperte und dann… Lara’s Herz schlug wie wild gegen ihre Rippen, als sie erkannte, dass die Gestalt auf dem Mond gestikulierte. Waren das…Hilferufe?

Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sie fühlte sich kalt und ekelte sich vor der Unmenschlichkeit dieses Anblicks. Es fühlte sich an, als würde sie eine Szene aus einem Albtraum erleben. In diesem Moment wurde Lara bewusst, dass sie dort oben nicht allein war. Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Bei der Dunkelheit des Mondes und dieser gruseligen Gestikulierenden Gestalt war sie sich sicher, dass sie nicht länger zuschauen konnte.

Sie rannte die Treppe hinunter und rief ihrem Vater zu, er müsse sofort kommen und sehen, was im Dachgeschoss vor sich ging. Doch als sie zurückkehrten, war das Teleskop umgestürzt und zerbrochen.

Ein kalter Windhauch durchstreifte das Dachgeschoss und ließ Lara frösteln. Sogar ihr Vater schauderte. „Denkst du, es war ein Einbrecher?“, fragte er, aber Lara sagte nichts. Sie wusste, dass es keinen Einbrecher gegeben hatte. Nur sie. Sie und die Gestalt auf dem Schwarzmond.

Als sie sich später in ihrem Bett einschloss, lauschte sie auf jedes Knarzen des Hauses und hüllte sich tiefer in ihre Decke ein. Sie versuchte sich einzureden, dass alles nur Einbildung gewesen war. Aber tief im Inneren wusste sie, dass diese Gestalt da draußen – irgendwo auf dem Schwarzmond – real war und vielleicht immer noch um Hilfe rief.

Und so verbrachte sie die Nacht, den Blick fest auf das Fenster geheftet, das schwarze Leere und den kalten, unnahbaren Mond zeigte. Jede Bewegung, jedes Geräusch ließ sie zusammenzucken. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und sie schwor sich, niemals wieder durch ein Teleskop zu blicken.

Die Gestalt auf dem Schwarzmond ließ sie nicht los und würde sie wahrscheinlich auch nie wieder loslassen. Mit jedem Atemzug spürte sie die grausame Wahrheit: Da draußen war jemand. Und sie konnte nicht helfen. Sie war allein, allein mit dem Wissen, dass das Unmögliche geschehen war. Doch niemand würde ihr glauben. Niemand würde verstehen. Denn der Schwarzmond behielt seine Geheimnisse für sich.

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