jeden Tag eine Geschichte
Schattenpfade

Schattenpfade

Andy saß zu Hause, eingeschlossen zwischen vier leuchtend weißen Wänden. Mit einem Bleistift in der Hand und einem leeren Blatt Papier vor ihm. Er war kein Maler oder Schriftsteller. Der einzige Grund, warum Andy mit einem Bleistift zeichnete, war seine Fähigkeit, zu sehen, was andere nicht konnten.

Seit er ein kleiner Junge war, sah er Schatten. Nicht die gewöhnlichen Schatten, die ein Objekt in der Physik erzeugt, sondern die Schatten von Wesen, die nicht existierten. Wesen aus einer anderen Dimension vielleicht, oder vielleicht Phantome vergangener Zeiten.

Er nannte sie die Schattenpfade. Andy konnte diese Schattenwesen nicht direkt sehen, aber er konnte den Pfad sehen, den sie nahmen, den Abdruck, den sie hinterließen. Es sah aus wie eine dunkle Silhouette, die sich bewegte und die Umgebung veränderte.

Manchmal folgte er den Spuren der Schatten, zeichnete sie auf Papier, sodass andere zumindest eine Ahnung davon bekamen, was er sah. Niemand glaubte ihm wirklich, aber das war ihm egal. So wurde er zum Chronisten des Unsichtbaren, zum Künstler des Unbekannten.

Eines Tages, als er mal wieder die Schattenpfade zeichnete, bemerkte er etwas Seltsames, Neues. Der Schattenpfad, der sich vor ihm ausbreitete, führte direkt in sein Zimmer. Er zeichnete, fasziniert und gleichzeitig mit zittrigen Händen. Er zeichnete eine große, menschenähnliche Silhouette, die sich zu ihm beugte.

Das Klingeln des Telefons riss ihn aus seiner Trance. Andy nahm den Hörer ab, doch bevor er ein Wort sagen konnte, dröhnte eine verzerrte Stimme aus dem Hörer: „Stehe auf und sieh dich um.“

Mit klopfendem Herzen stand er auf, blickte sich im Zimmer um. Alles war wie immer. Weiße Wände, sein Schreibtisch, das Zeichenpapier. Doch dann bemerkte er es.

Auf seinem Zeichenblatt war die Silhouette verschwunden. Sein Blick glitt über das Zimmer und setzte sich auf dem Spiegel an der Wand gegenüber fest. Dort erkannte er in der Spiegelung die menschenähnliche Silhouette. Sie war hinter ihm, ragte über seine Schulter, blickte auf ihn herab.

Plötzlich hörte er das Rascheln von Papiers und lärmte wild auf, als das Zeichenblatt mit dem besonderen Schattenpfad darin von der Tischplatte auf den Boden fiel. Auf dem Blatt prangte nun eine lebensgroße Zeichnung des Schattenwesens. Düster, bedrohlich und majestätisch. Mit einer fingerähnlichen Projektion wies es auf den Spiegel.

Im Spiegel sah Andy nun etwas, das den Atem in seiner Lunge gefrieren ließ. Er sah das Schattenwesen wirklich, in seiner vollen, erschreckenden Größe. Diese menschenähnliche Silhouette umgab keine Dunkelheit mehr, sie war aus Fleisch und Blut, real. Es blickte auf ihn herab, ein schreckliches Lächeln auf seinem Gesicht.

Die Welt um ihn herum wurde dunkel, so als würde das Wesen das Licht verschlucken. Alles, was blieb, war der schreckliche Anblick des Wesens im Spiegel, sein höhnisches Grinsen und die endlose Dunkelheit ringsum.

Und dann war plötzlich alles vorbei. Das Zimmer kam wieder zum Vorschein, hell und genauso weiß wie immer. Im Spiegel war nur seine eigene verängstigte Reflexion zu sehen. Auf dem Boden lag das Zeichenblatt, die leere Seite glänzte im Licht des Tages. Kein Schatten, keine Silhouette, nur eine weiße, unberührte Seite.

Andy saß da, starrte auf die leere Seite und dann auf den Spiegel. Was war passiert? Hatte er es sich nur eingebildet? Oder hatte er tatsächlich für einen kurzen Moment in die Welt der Schattenpfade geblickt?

Und wenn das stimmte, wenn diese Schattenwesen ausreichend Macht oder Wut aufbauten, könnten sie dann nicht aufhören, Schatten zu sein und real in unserer Welt werden?

Für Andy änderte sich ab diesem Tag alles. Denn er wusste jetzt: Jede Zeichnung, die er machte, jedes Schattenwesen, das er auf Papier bannte, konnte zu ihm zurückkommen. Vielleicht nicht sofort. Vielleicht nicht heute oder morgen. Doch irgendwann … wenn sie bereit wären, die Schattenpfade zu verlassen.

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