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Ruf der Ahnen

Ruf der Ahnen

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Einer alter Brauch unserer kleinen Stadt am Rande des monumentalen Bergkessels besagt, dass alle Neugeborenen der Sonne gezeigt werden müssen. Ein Ritual, aus der Ära unserer Ahnen, das scheinbar keinen verständlichen Zweck erfüllt. Dennoch, wer sind wir, uns gegen jahrhundertealte Überlieferungen zu stellen?

An einem winterlichen Morgen, ging das Summen und Kichern der Stadtbewohner abrupt in stumme Erstarrung über, als wir den Ruf der Ahnen hörten. Es war kein echter Laut. Es dröhnte nicht in unseren Ohren, nicht wie man sich einen Ruf vorstellen würde. Es war ein inneres Echo, als würde etwas vielseitig bedeutendes in unseren Herzen unter der Schneedecke gerufen werden. Und wir wussten: Das Kind war geboren.

Wie es Brauch war, versammelten wir uns auf dem zentralen Platz, trotz der grimmigen Kälte. Die Mutter, so bleich wie ihre weißen Umhänge, trug das in Fell gewickelte Kind auf ihren Armen. Obwohl es bitterkalt war, lag auf der Haut des Säuglings keine Frostschicht.

Und dann geschah es. Sie hob das Kind empor, zeigte es der Sonne und das Echo in unseren Herzen wurde stärker. Es wurde eine Stimme, leise zuerst, dann mit jedem Atemzug lauter. Es war das Lachen eines Babys, das Schluchzen eines Sterbenden, das Gemurmel eines Gebets, alles zur gleichen Zeit, in einer Sprache, die wir nicht kennen mussten, um sie zu verstehen.

Jeder in unserer Stadt, vom ältesten Ratsherren bis zum jüngsten Kind, fühlte es. Einen Zug, eine Bestimmung. Möglichkeiten endlos wie die Sterne, Bedrohungen finster wie der Tod. Hoffnungen und Ängste, Liebe und Hass, Trauer und Freude. Es war das Lied der Menschheit, gesungen von unserem eigenen Blut und Fleisch.

Als die Stille zurückkehrte, wie eine Decke, die sich sanft auf den Platz senkte, hielt die Mutter ihr Kind, nur ein dunkler Fleck im schneeweißen Hintergrund, enger an sich. Ein erhöhtes Keuchen löste sich aus ihrer Brust. Ihre Augen, blau wie der reinste Ozean, schienen im Sonnenlicht zu glühen. Sie sprach kein Wort, doch ihr Blick verriet etwas tief Verborgenes: Etwas Unausgesprochenes, das sich wie ein Funken in jede Seele in unserem kleinen Dorf bohrte.

Die folgenden Tage waren voll von Unruhe. Ein geisterhafter Wind fegte durch die Stadt. Die Erwachsenen flüsterten von Dämonen und alten Göttern, die Kinder blieben eingeschüchtert in ihren Betten. Trotz der Unruhe spürten wir alle diese unerklärliche Gewissheit, das kollektive Wissen unserer Vorfahren war in uns lebendig. So wie das Kind. Ein unschuldiges Wesen, oder die Reinkarnation einer alten, uralten Macht…

Die Antwort bleibt einen Schatten im Licht, und wir warten auf den nächsten Ruf.

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