Sie war allein. Im verschwommenen Licht eines halben Mondes stand Lilith auf dem einsamen Hügel, ihr Blick auf die verlassenen Ruinen des alten, ausgebrannten Herrenhauses gerichtet. Ein kalter Wind wehte über die gräuliche Landschaft, brachte Nebelschwaden mit sich, die das brüchige Gemäuer umspielten, als versuchten sie, die Geheimnisse zu verhüllen, die es noch immer bewahrte.
Das Haus war einmal ihr Zuhause gewesen, aber es war Jahrzehnte her, seit sie es zuletzt betreten hatte. Jetzt war nur noch die leere Hülle übrig, ein Geisterhaus, das von einem dunklen Kapitel ihrer Vergangenheit erzählte. Und doch fühlte sie sich zu ihm hingezogen, angetrieben von etwas, das sie nicht verstand.
Leise trat sie über die Schwelle, hinein in die Dunkelheit, die sie umhüllte wie ein alter, vertrauter Freund. Der Geruch von verbranntem Holz und alter Asche hing noch immer in der Luft. Instinktiv ging sie durch die ausgetrockneten Räume, vorbei an leeren Fensteraussparungen, wo der Wind pfiff und die toten Blätter im Raum wirbelte.
Ihr fiel ein Raum im Obergeschoss ein, das Zimmer, in dem sie einst geschlafen hatte. Als sie hinaufging, schien trotz der Dunkelheit und des Nebels etwas in dem Zimmer Licht zu reflektieren, als ob ein vergessenes Stück ihrer Vergangenheit darauf wartete, enthüllt zu werden.
Sie fand es am Fuß ihres alten Bettes, ein ovales, goldumrandetes Medaillon, das sie seit jeher begleitet hatte. Als sie es öffnete, waren die Bilder verblasst, aber sie konnte zwei Gesichter ausmachen – ihre Eltern. Die Erinnerung an sie war genauso verblasst wie die Bilder, nur vage Umrisse in ihrer Vergangenheit, verloren im Nebel der Vergessenheit. Lilith konnte ihre Gesichter nicht klar sehen, ihre Namen nicht erinnern. Sie war allein mit diesem Medaillon, ihrem einzigen Beweis dafür, dass sie einmal existierten.
Der Schmerz in ihrem Herzen war fast greifbar, aber mit ihm kam ein Gefühl der Leere und Einsamkeit. Es fühlte sich an, als ob sie Teile von sich selbst losgelassen hatte, als sie diese Erinnerungen verloren hatte. Sie fühlte sich verloren, geistig und körperlich entwurzelt von etwas, das einmal ihre Heimat gewesen war.
Die alte Zeitanzeige des Herrenhauses schlug Mitternacht, und der verträumte Klang hallte einsam im leeren Haus wider. Der Nebel draußen verdichtete sich, schluckte das verfallene Gemäuer und Lilith stand einfach da, eingehüllt in Dunkelheit und Einsamkeit, umgeben von Erinnerungen, die sie nicht greifen konnte.
Lilith ließ das Medaillon fallen und es klapperte auf den verrosteten Metallboden. Der Lärm hallte durch die leere Ruine und schien für einen Moment die Dunkelheit zu durchbrechen. Und in diesem Moment fühlte sie etwas in ihrem Inneren brechen.
Das alte Haus, die neblige Nacht und das vergessene Medaillon, sie waren alle Teile von ihr, Teile, die sie verloren hatte, verblasste Erinnerungen, eingehüllt im Nebel des Vergessens. Aber sie war nicht bereit, die letzten Teile ihres Lebens, die letzten Spuren ihrer Existenz, im Dunkeln zurückzulassen.
Lilith bückte sich, sammelte das Medaillon auf und hielt es fest in ihrer Hand. Sie schaute noch einmal hinaus in die neblige Nacht und wusste, dass sie zurückkommen würde. Sie würde die Erinnerungen, die in diesem Haus verborgen waren, enthüllen und die Stücke ihrer Identität, die sie verloren hatte, zurückholen. Denn sie war mehr als der Nebel des Vergessens. Sie war Lilith.