jeden Tag eine Geschichte
Nachtflüsterer

Nachtflüsterer

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Langsam kroch die Dunkelheit in das kleine, beschauliche Dorf Hollow Creek. Mit ihr kam die Nacht und eine unheimliche Stille, die nur durch das Zirpen der Zikaden gestört wurde. Das war die Zeit des Nachtflüsterers.

Mitten in der Ortschaft, zwischen reetgedeckten Häusern und windschiefen Gassen, stand ein altes, knorriger Baum, der als „Der alte Weise“ bekannt war. Überwuchert von Moos und Efeu, erzeugte er in der Nacht einen unheimlichen Schatten, der das Herz der Bewohner höher schlagen ließ. Um den Baum rankten sich Schauergeschichten, von generation zu generation. Der flüsterte, so munkelte man, in der Nacht den Namen derer, die dem Tod nahe waren.

Niemand traute sich, nach Einbruch der Dunkelheit in die Nähe des Baumes zu gehen, bis auf den jungen Tom. Tom, der rebellische Teenager, der Angst geradezu verachtete und es liebte, die Grenzen auszuloten. So beschloss er eines Abends, den Wahrheitsgehalt der Schauergeschichte zu überprüfen.

Der Mond strahlte hell und beschien die Silhouetten der Häuser. Tom schlenderte gemächlich zur Dorfmitte, seinen iPod im Ohr, als Kontrast zur alles erdrückenden Stille. Er lehnte sich gegen den Baum und wartete, doch es passierte nichts. Kurz davor die Mission als gescheitert zu erklären, zerriss ein leises Flüstern die Stille. Erst dachte er, es sei der Wind oder ein Tier, aber es war unverkennbar sein Name, der geflüstert wurde.

Erschrocken sah er sich um, doch es war niemand zu sehen. Sein Herz begann zu rasen, als das Flüstern erneut ertönte. Es war das Flüstern des alten Baumes. Das Blut gefror ihm in den Adern, das Smartphone fiel aus seiner Hand. „Tom…“, hörte er es wieder, kühler und gespenstischer als der Wind, der durch die Blätter des Baumes strich.

Tom rannte zurück nach Hause, durchzuckt von Panik, doch das Flüstern wurde lauter und durchdringender. Der Baum flüsterte seinen Namen immer und immer wieder, wie ein Todeslied, das die Nacht erfüllte.

Die folgenden Wochen verbrachte er in Todesangst, immer in der Erwartung, dass ihm etwas Schreckliches zustoßen würde. Doch nichts geschah. Er verlor nach und nach die Hoffnung, bemerkte eine schleichende Schwäche, die ihn überkam. Der Baum hatte es vorausgesagt. Er fühlte, wie sein Leben, sein Geist, kontinuierlich verblasste.

Das Flüstern hörte erst auf, als Tom eines Morgens nicht mehr aufwachte. Der Tod eilte still und sanft wie ein Schatten in der Nacht über ihn, genau wie der Baum es vorhergesagt hatte.

Die Bewohner von Hollow Creek trauerten um ihren verlorenen Sohn und ein eisiger Schauer überzog sie, wenn sie auf dem Weg zur Arbeit oder Schule am alten Baum vorbei mussten. Die Legende des Nachtflüsterers lebte weiter, modernisiert und passend für jede Generation. Jede Nacht, wenn die Dunkelheit das Dorf umfing, lauschten sie ängstlich, ob der Baum ihre Namen flüstern würde.

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