jeden Tag eine Geschichte
Nachtfluch

Nachtfluch

2

Liam lag im Dunkeln seines kleinen Schlafzimmers im Altbau und starrte stumm auf sein Smartphone. Der Raum war nur mit dem blauen Licht des Bildschirms erhellt, und seine Gedanken kreisten um die seltsame Nachricht, die er gerade bekommen hatte. „Sieh nicht hin“, stand in großen Buchstaben auf seinem Bildschirm. Kein Absender. Keine Erklärung.

Er zögerte, seinen Blick von dem Text zu lösen, aber die Neugier überwog schließlich. Er sah hinaus. Sein Fenster ging auf eine kleine, verlassene Gasse hinaus. Dunkelheit umhüllte die sonst so vertrauten Gebäude und machte sie zu anonymen Schatten. Mitten in der Gasse lag ein leuchtender Kreis.

Gefangen zwischen Angst und Faszination beobachtete Liam das Leuchten. Es war mehr als nur eine Lichtquelle. Es pulsierte in einem rhythmischen Muster, als ob es lebendig wäre. Mit jeder Pulsation wuchs die Helligkeit, bis sie das gesamte Fenster ausfüllte. Und dann sah er es.

Vage und doch deutlich, bildete sich im Lichtkreis eine Gestalt. Sie war menschenähnlich, doch etwas an ihr war verzerrt, ihre Silhouette schien ständig zu flimmern, als ob sie aus Fehlern im Licht bestehen würde. Als sie sich auf Liam zu bewegte, erschien ein Gesicht im leuchtenden Zentrum des Kreises. Es war ein einfaches Gesicht, ohne auffällige Merkmale, ein schwarzes Silhouette gegen das helle Leuchten. Doch die Augen, die Augen waren rot, wie Blut, und starrten direkt auf Liam.

Liam wollte schreien, aber seine Stimme weigerte sich, ihm zu gehorchen. Er wollte weglaufen, aber sein Körper war wie gelähmt. Das einzige, was er tun konnte, war zuzusehen, wie die Gestalt näher kam.

Es ging schnell. Innerhalb von Sekunden war die Gestalt vor seinem Fenster. Sie starrte ihn weiterhin an, ihre Augen durchdrangen ihn, als würden sie seine Seele suchen. Das Rot in ihren Augen schien tiefer zu werden, als ob es ihn in eine andere Welt zog. Sie streckte ihre Hand aus und berührte das Glas des Fensters.

Dann kam das Geräusch, ein leises Klicken, als das Fenster sich öffnete. Luft strömte herein, kalt und mit einem Geruch nach Vergangenem. Die Gestalt streckte ihren Arm weiter aus, bis ihre Hand nur noch Zentimeter von Liams Gesicht entfernt war.

Das Licht schimmerte um ihre Finger, und Liam konnte nichts anderes tun als zuzusehen. Die Finger berührten seine Wange, und plötzlich war alles weg. Das Licht erlosch und ließ ihn in völliger Dunkelheit zurück. Er konnte die Gestalt, das Licht, selbst das Fenster nicht mehr sehen. Er war allein. Vollkommen allein.

Als das Licht des Morgens durch das jetzt geschlossene Fenster drang, fand man Liam. Er saß immer noch auf seinem Bett und starrte ins Leere, sein Smartphone lag neben ihm, immer noch eingeschaltet. Auf dem Display war eine neue Nachricht zu lesen: „Sieh hin.“

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