jeden Tag eine Geschichte
Labyrinth der Seelen

Labyrinth der Seelen

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Das Smartphone in deiner Hand führt dich mit einem blinkenden Punkt durch das Dunkel. Du bist der Letzte deiner Freunde, der noch in diesem abgelegenen Gebäude herumirrt. Euer Auftrag war einfach: Zeigt Mut und geht in das Labyrinth. Die „Ghost Hunt“ App war eigentlich nur als Spiel gedacht, um Halloween zu feiern. Ein Spiel, das schnell zu einer Herausforderung wurde.

Du erinnerst dich noch gut an das Okay-Signal deiner drei besten Freunde, die zunächst lachten und sich dann in verschiedene Richtungen des Labyrinths begaben. Eure Euphorie war geschwinder verflogen als angenommen. Die Stille, das Knarren alter Türen, der kalte Luftzug, der euch in die Knochen fuhr, all das hatte eure Stimmung schnell gedämpft.

Alles was du jetzt hörst, ist das hässliche Krächzen deiner eigenen Stimme, die nach deinen Freunden ruft. Doch deine Worte hallen nur einsam durch die finsteren Gänge. Du schaust noch einmal auf dein Smartphone. Ein roter Punkt ist nicht weit von dir entfernt. „James“, steht darunter. Du läufst darauf zu und findest ihn regungslos auf dem Boden. Seine Augen sind leer, er atmet nicht mehr. Schockiert stolperst du rückwärts und stößt mit einem anderen roten Punkt zusammen. Bei Licht betrachtest du das grausige Szenario – auf die gleiche Art und Weise wurden deine anderen Freunde in den Winkeln des Labyrinths zurückgelassen.

Angst schneidet durch deine Kehle, zusammen mit einem gedämpften Schrei. Sie sind tot! Kein Puls, keine Atmung, nur kalte, leblose Körper. Ganz wie die Seelen, die die App euch auf dem Radar zeigte. Wabern, gesichtslos, vor dem bläulichen Hintergrund eures kleinen Bildschirms.

Rasch kramst du nach deinem eigenen Smartphone, um Hilfe zu rufen. Doch das Gerät ist tot. Das Labyrinth scheint deine letzten Batteriereserven aufgesogen zu haben. Du knipst dein Feuerzeug an, das Licht zittert in deiner Hand. Du hast Angst, überlaufen von purem Entsetzen. Du bist allein in diesem Alptraum, eingeklemmt zwischen den eiskalten Wänden des Labyrinths. Mit jedem Schritt, den du machst, hallt dein Herzschlag lauter durch den dunklen Raum. Dann siehst du es – ein grünliches Leuchten aus einer Ecke.

Erst bemerkst du nur den schwachen Schein, der gebrochen durch die dunklen Gassen fällt. Aber dann bemerkst du die Figur, die das Licht wirft. Ein blasses Gesicht, eingefasst von wildem Haar, starrt dich an. Kein Gespür von Leben, weder Augen noch Mund, nur eine skulpturale Maske voller Risse und Kerben. Ihr grünliches Leuchten wird heller, intensiver, während dein Herzschlag sich in einen rasanten Trommelwirbel verwandelt.

In Todesangst rennst du los, weg von diesem schrecklichen Anblick, stolperst und fällst schließlich bewusstlos zu Boden. Du erwachst in einem kalten Schweiß, in der Kälte des Morgens, in einem verlassenen Gebäude voller Graffiti und Müll. Deine Freunde werden nie gefunden und die App ist aus dem Appstore verschwunden. Niemand glaubt deiner Geschichte. Und doch weißt du, dass das Labyrinth der Seelen real ist und seine Bewohner auf die nächste Gruppe von ahnungslosen Spielern warten.

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