jeden Tag eine Geschichte
Labyrinth der Schatten

Labyrinth der Schatten

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Riley betrat das alte verlassene Herrenhaus am Stadtrand mit gemischten Gefühlen. Sie war nicht der Typ, der sich leicht verängstigen lässt; sie hatte schließlich schon einiges erlebt als kostenlose Kamerafrau eines populären Geisterjäger-Kanals auf YouTube.

Das Haus war riesig, mit zahlreichen verwinkelten Korridoren und dunklen Ecken. Sie zückte ihre Kamera und begann, das Innere des Herrenhauses zu filmen. Nichts hätte sie auf das vorbereiten können, was sie als Nächstes erleben sollte.

Nachdem sie eine beeindruckende Haupttreppe gefilmt hatte, stieg sie hinauf zum ersten Stock. Plötzlich bemerkte sie eine Bewegung aus dem Augenwinkel. Als sie sich umdrehte, stand sie vor einer Wand aus Dunkelheit. Es war, als wäre sie in ein schwarzes Loch gestolpert, das sich plötzlich geöffnet hatte.

Sie versuchte, den Lichtstrahl ihrer Kamera auf die Dunkelheit zu richten, aber er wurde geschluckt, als ob die Schwärze materiell wäre. Plötzlich hörte sie ein Flüstern – leise, aber klar. Riley versuchte, den Worten zu folgen, aber sie waren in keiner Sprache, die sie kannte.

Ihre Haare begannen sich aufzurichten und ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Sie wollte rennen, aber jeglicher Orientierungssinn war verloren gegangen. Sie war allen Sinnen nach in einem Labyrinth der Schatten gefangen.

Aus der Dunkelheit trat eine Gestalt hervor. Sie war schwarz wie die umgebende Dunkelheit selbst und strahlte eine eisige Kälte aus. Ehe sie wusste, wie ihr geschah, wurde sie von Schatten umgeben und in eine unwirkliche Weltenwanderung gezogen, in der Raum und Zeit bedeutungslos wurden. Zahllose Augenpaare starrten sie an, flackernde seelenlose Lichter in der Dunkelheit.

Endlich gelang es ihr, sich loszureißen und im Zentrum einer endlosen Schwärze landete sie auf dem staubigen Boden des Herrenhauses. Mehrere Flüstern wie ein Windstoß streiften ihr Ohr; sie konnte jedoch immer noch keine Worte erkennen. Das Flüstern wurde lauter, insistierender, fast hämisch und gnadenlos.

Als Riley erwachte, befand sie sich in der Mitte des Raumes, in den sie als Erstes eingetreten war. Die Sonne, die langsam unterging, ergoss ihre letzten Strahlen durch die schmutzigen Fenster ins Innere. Ihre Kamera lag neben ihr. Sie nahm sie vorsichtig auf und sah sich das aufgenommene Material an. Es zeigte nur sie, wie sie bewusstlos auf dem Boden lag.

Es war kein Geheimnis mehr, warum das Haus verlassen war. Jeder, der eintrat, würde gezwungen, sich seinem eigenen Labyrinth der Schatten zu stellen. Die Spuren ihres Horrors waren auf ihrer Haut, in ihren Augen und tief in ihrer Seele eingegraben.

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