jeden Tag eine Geschichte
Im Bann des Mondlichts

Im Bann des Mondlichts

1176

Max stand auf dem Dach seines Apartmentgebäudes, das Gesicht gespannt zum Himmel gerichtet. Draußen, in der Dunkelheit, sollte heute eine besondere Mondeklipse stattfinden – ein einmaliges Ereignis, das nur ein einziges Mal in hundert Jahren zustande kam. Mit eifriger Begeisterung für Astronomie hatte Max wochenlang auf diesen Moment gewartet.

Der Mond wurde stetig heller, fast blendend weiß. Fast jeder um Max herum hatte seine blickdichten Schutzbrillen aufgesetzt. Aber Max war fasziniert, an den ewigen Weiten des Weltraums, und wollte jeden einzelnen Moment dieses kostbaren Wunderwerks unverhüllt sehen.

Plötzlich wandte sich der silbrig weiße Mond scharlachrot. Max starrte, unfähig wegzusehen, fasziniert von der faszinierenden Transformation. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass die Menschen um ihn herum unruhig wurden, ihre Stimmen ein klagendes Murmeln in seiner Wahrnehmung.

Es war ein Schatten, der sich plötzlich vom Kern des Mondes löste. Ein Schatten, der sich fast reglos auf die Erde zubewegte. Max spürte einen tiefen Schrecken, der sein Innerstes packte, aber sein Blick blieb unwillkürlich an den düsteren Konturen des aufdringlichen Dunkels haften.

Der Schatten erreichte die Erde. Kühle Dunkelheit breitete sich aus, die die Stadt zu verschlucken drohte. Max sah zu, wie die Straßen unter ihm in tiefem Schwarz versanken, während die Lichter der Gebäude um ihn herum erloschen. Dann wurde auch das Dach, auf dem er stand, von der Dunkelheit eingeschlossen.

Plötzlich spürte Max einen kühlen Hauch an seinem Gesicht. Er drehte sich um und blinzelte in die pechschwarze Dunkelheit. Er konnte nichts sehen. Aber er konnte es fühlen.

Es war nicht der Wind. Es war die Präsenz von etwas anderem – etwas, das nicht von dieser Welt war. Max spürte, wie das Ding näher kam; er konnte seinen kalten, toten Atem spüren. Es war Schrecken und Furcht, die er noch nie zuvor in seinem Leben gespürt hatte.

Und dann hörte er es – ein kaum wahrnehmbares Geräusch. Es klang wie das Wimmern eines Kindes, das flüstern eines geflügelten Wesens, das Stöhnen eines Geistes – eine Kombination der merkwürdigsten Geräusche, die sein Ohr je vernommen hatte.

Max hatte das Gefühl, als müsse er schreien, aber kein Laut verließ seine Kehle. Die Kraft der Dunkelheit hielt ihn fest, drückte die Luft aus seiner Brust.

Und dann hörte er zum ersten Mal in seinem Leben die Stimme der Dunkelheit. Es sprach in einer Sprache, die er nicht kannte, die Worte klangen alt und mystisch. Obwohl er die Worte nicht verstand, konnte er die Bedeutung aus der Einfachheit der Dunkelheit selbst spüren. Es sprach von alten Geheimnissen, ewiger Nacht und der Macht des Mondes.

Und Max verstand – er war in den Bann des Mondlichts gefallen. Diese Nacht, dieser Moment hatte ihn verändert – in etwas, das nicht von dieser Welt war. Er war jetzt ein Teil des Mondes, der Dunkelheit und des Geheimnisses des Universums.

Als die Dunkelheit schließlich abklang und die Sonne begann, den Himmel zu erleuchten, stand Max allein auf dem Dach. Er fühlte sich verändert, verwirrt, erschreckt – aber er fühlte auch eine seltsame Art von Frieden. Er fühlte sich zum ersten Mal in seinem Leben wirklich lebendig. Auch wenn er nicht mehr ganz sicher war, was „Leben“ jetzt für ihn bedeutete.

In der Hoffnung, die Wahrheit seiner Transformation zu begreifen, streckte er seine Hand dem neuen Tag entgegen, während seine Augen immer noch den schwindenden Mond am Himmel verfolgten. Er war nun für immer im Bann des Mondes gefangen. Aber was bedeutete das für ihn? Wer war er jetzt?

Facebook
X
LinkedIn
Facebook
WhatsApp