Es waren die kahlen Bäume, die sie zuerst bemerkte. An einem frühen Wintertag zogen Alicia und ihr Vater in die Hausnummer 13 in einer verlassenen Straße. Sie hatten es zum Spottpreis gekauft. Es war alt, schäbig, aber es war ihr Zuhause. Die große Glasfront zum Garten hin gab ihr trotz der düsteren Stimmung ein Gefühl der Freiheit. Doch, es gab etwas, was einfach nur gruselig war – niemals drang ein Geräusch von außen in das alte Haus ein.
Den ersten Vorfall bemerkte sie, als sie das alte Radio ihres Vaters reparieren wollte. Sie drehte den Knopf, und stellte erleichtert fest, dass das Radio funktionierte. Aber kaum hatte sie die Tür des Hauses geschlossen, war es wieder still. Ratlos sah sie sich um, das Radio war noch eingeschaltet, doch kein Laut drang aus den Lautsprechern.
Die nächste Begegnung mit der merkwürdigen Stille fand statt, als ihre Freundin Lydia sie besuchte. Beide Mädchen lachten ausgelassen, bis Alicia die Haustür schloss. Sie drehte sich zu Lydia um, um weiter zu reden, aber ihre Worte verschwanden. Sie sah ihre Freundin reden, doch es kam kein Wort bei ihr an. Ein kühler Schauer lief ihr über den Rücken und beide Mädchen starrten sich mit weit aufgerissenen Augen an. Schlagartig begriffen sie, dass dies kein Scherz war.
Die verzweifelte Stille verschlang alles, was lebte. Vögel, die im Garten herschwirrten, Hunde, die vorbeiliefen, der Wind, Regen gegen die Glasfront, sogar die leisen Geräusche ihres eigenen Atems – alles verschwand. Alicia konnte das dumpfe Hämmern ihres Herzens in ihrer Brust hören, mehr nicht.
Dies führte dazu, dass sie das Haus nur noch selten verließ. Sie kommunizierte mit ihrem Vater durch handschriftliche Notizen. Die Stille zehrte an ihren Nerven, und sie träumte von Geräuschen, von der einfachen Harmonie des Alltags, von dem Gesang der Vögel und dem Rauschen des Windes.
Eines Nachts wurde Alicia von dem Gefühl geweckt, dass sie nicht alleine war. Sie öffnete die Augen und sah einen dunklen Schemen an ihrem Bett stehen. Es war ein großer Schatten, vielleicht ein Mann, vielen schweren Mantel tragend. Und aus dem tiefen Dunkel seiner Umrisse dröhnte eine Stille, die noch erdrückender war, als die, die das Haus erfüllte. Ihre einzige Gewissheit war das zerquetschende Gefühl von Eisigkeit, das von ihm ausging und die Stille, die alles verschlang.
Sie sprach ihn an, erreichte aber nichts. Was auch immer er war, er reagierte nicht auf ihre Stimme. Das unerbittliche Schweigen war alles, was sie bekam. Panisch versuchte sie zu schreien, aber es gab keinen Ton. Sie war gefangen in einem unendlichen Ozean der Leere und Stille.
Dann war sie allein. Er war verschwunden. Sie blieb zurück in der Dunkelheit, atemlos, ihr Herz hämmerte in ihrer Brust. Sie wusste, dass er wieder kommen würde und ein grauenhafter Verdacht stieg in ihr auf. Sie war nicht in das alte Haus gezogen, sondern in sein Reich. Ein Reich, in dem Stille herrschte und Geräusche ein Fremdwort waren.
Die Stille hatte einen Namen, ein Gesicht, eine Gestalt. Und sie sehnte sich nach dem Geräusch des Lebens, um ihre unendliche Leere zu lindern. Doch ihre Gier nach Lauten war unstillbar und fraß jedes Geräusch, um ihre Besessenheit zu nähren.
So sitzt Alicia nun in einem Raum der Stille, in einem Haus, in dem keiner sie hören könnte, selbst wenn sie schreien würde. Sie lebt in der ständigen Angst, dass die Gestalt der Stille zurückkehrt und ihr endgültig jeden Laut raubt. Denn die Stille hat sie gekostet und ihre Gier geweckt.