Es war spät, als Sam zu „The Cliff“ fuhr, einem beliebten Aussichtspunkt, der wegen seiner spektakulären Schönheit bekannt war und einen atemberaubenden Blick auf die Stadt bot. Er hatte an diesem Tag eine Trennung von seiner Freundin durchlebt und wollte unter den Millionen Sternen verharren, um seinen Schmerz zu lindern.
Er stellte sein Auto im Dunkeln ab und marschierte mit einer Taschenlampe in der Hand den schmalen Pfad hinunter zum Rand des Abgrunds. Er lehnte sich vorsichtig an das Geländer, das zum Schutz vor dem steilen Absturz aufgestellt war, atmete die kalte Nachtluft tief ein und hörte, wie der Wind durch die Bäume heulte. Plötzlich hörte er ein Rauschen hinter sich. Als er sich umdrehte, gab es nichts. Er wischte es als Produkt seiner Fantasie beiseite und fokussierte wieder auf die Skyline der Stadt.
Doch genau in dem Moment spürte er eine kalte, unnatürliche Anwesenheit nah bei sich. Die Temperatur schien zu fallen und er fühlte sich seltsam unruhig. Wieder hörte er das Geräusch – diesmal lauter und näher. Seine Taschenlampe flackerte auf und er sah im schwachen Licht eine schemenhafte Gestalt auf sich zukommen.
Er versuchte zu rennen, aber seine Füße waren wie festgeklebt. Die Gestalt kam näher und näher. Seine Taschenlampe erlosch endgültig und lies ihn in völlige Dunkelheit taumeln. Er konnte nur das bedrohliche Flüstern hören, das sein Herz fast zum Stillstand brachte. Nebel umhüllte ihn und er konnte die Gestalt jetzt klarer sehen. Ein bleiches, ausdrucksloses Gesicht mit dunklen, leeren Augenhöhlen. Sam schrie vor Angst und fiel auf den Boden.
Die Gestalt stand jetzt direkt über ihm, streckte eine knochige weißbläuliche Hand aus und berührte sanft sein Gesicht. Sein Atem stockte, als er die kalte Berührung spürte, als würde er mit dem Tod selbst konfrontiert. Blitz plötzlich verschwand die Gestalt und lies Sam schreiend und zitternd in der Dunkelheit zurück.
Er kämpfte, um auf die Beine zu kommen und rannte blindlings weg, stolperte und fiel mehrmals, bevor er es endlich zu seinem Auto schaffte. Er startete den Wagen und fuhr mit Höchstgeschwindigkeit weg, ohne einmal zurückzublicken.
Sams Leben veränderte sich nach dieser Nacht völlig. Er erzählte niemandem von seinem Erlebnis, aus Angst, als verrückt abgestempelt zu werden. Doch er konnte die gleiche Erscheinung immer wieder sehen, jeden Tag und jede Nacht. Und egal, wo er sich befand oder wie weit er reiste, das Grauen am Abgrund schien ihm überallhin zu folgen. Niemand sonst konnte es sehen. Es war seine stille, unnachgiebige Qual.
Die Leute begannen, Veränderungen in seinem Verhalten zu bemerken. Er verlor an Gewicht, seine Augenringe wurden dunkler und tiefer, er hatte Alpträume und wachte oft mitten in der Nacht auf, schreiend und schweißgebadet. Und obwohl er niemandem die Wahrheit sagte, konnte jeder das unaussprechliche Grauen in seinen Augen sehen.
Sie sagen, wer einmal das Grauen am Abgrund erlebt hat, wird nie mehr derselbe sein. Die Gestalt ist für immer in den schlimmsten Albträumen gefangen und verfolgt einen bis an das Ende aller Tage. Und in Sams Fall wurde das Grauen am Abgrund zu seinem eigenen persönlichen Horror, der ihn jede Nacht besuchte, ihm seine Schlaf und Ruhe raubte und ihn ständig an den Rand des Wahnsinns trieb.