jeden Tag eine Geschichte
Geister des Frostes

Geister des Frostes

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Es war ein bitterkalter Winterabend. Schnee verdeckte die Landschaft und machte die Stadt unkenntlich. Alle blieben lieber drinnen, eingehüllt in warme Decken und sammelten sich um knisternde Kamine. Auf den Straßen ereignete sich jedoch etwas Seltsames und Unheimliches.

Die frostige Stille wurde von einem Knirschen unterbrochen, fast unhörbar. Etwas bewegte sich im dichten Schneetreiben. Kein gewöhnlicher Nachtwanderer. Es war nicht ganz real, schwebend zwischen Dasein und Nichtssein – die Geister des Frostes.

Sie trugen die Gestalt von Kindern, eingehüllt in zarte Eisschleier. Ihre Haut war durchscheinend wie gefrorenes Wasser, ihre Augen funkelten in der Farbe des Wintereises. Sie sprachen nicht. Sie lächelten nicht. Aber man konnte spüren, dass sie da waren – ihre Anwesenheit hinterließ ein eisiges Prickeln in der Luft.

Als Sam, ein junger Student, von diesem Phänomen hörte, dachte er an einen überteuerten Gruselfilm. Er ließ sich von den Geschichten der Einheimischen verführen und beschloss, diesen Geistern nachzugehen. Mit seiner Kamera, eingepackt in mehrere Schichten Kleidung, begab er sich spät in der Nacht in die eisige Wildnis.

Er wanderte stundenlang durch die schneebedeckte Stadt und den gefrorenen Wald. Anfangs sah er nichts Außerordentliches. Aber als die Uhr Mitternacht schlug, änderte sich etwas. Die Temperatur fiel schlagartig, der Wind wurde still, und die Welt schien den Atem anzuhalten.

Plötzlich sah er sie. Die Geister. Sie sahen aus wie Bilderbuchfiguren, fast liebevoll. Sie tauchten aus dem Schnee auf, leichten Schrittes mit einer beinahe tänzerischen Leichtigkeit. Sie durchquerten Wände, tanzten auf Dächern, liessen Schneeflocken tanzen, wie in einem Ballett. Doch ihre kalten, emotionslosen Augen wirkten verstörend.

Fasziniert und angsterfüllt zugleich, hielt Sam seine Kamera hoch und begann, sie zu filmen. Erst bemerkten die Geister ihn nicht, doch dann richteten sie ihre Aufmerksamkeit auf ihn. Ihre durchdringenden Augen fixierten ihn und plötzlich fühlte er sich kälter als jemals zuvor.

Er wollte wegrennen, doch seine Beine gehorchten ihm nicht mehr. Sie waren gefroren. Die Kälte kroch in seine Lungen, sein Herz schlug stolpernd gegen seine Brust. Die Welt um ihn herum begann zu verschwimmen als er zu Boden sank.

Sam wurde erst am nächsten Morgen gefunden, eingefroren in der Mitte des Dorfplatzes. Auf seinem Gesicht war ein Ausdruck von Ehrfurcht und Horror. Die Kamera, die er fest umklammert hielt, enthielt das letzte, unheimliche Beweisstück – ein Video von tanzenden, eisigen Kindern).

Die Einheimischen, die genug wussten um sich in Sicherheit zu halten, flüsterten eine Warnung in die winterliche Stille. Schau nicht zu lange in die Kälte. Denn die Geister des Frostes sehen dich. Und wer ihr starrer Blick trifft, für den kommt der Frühling nie.

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