Abby hatte gerade ihre neue Augmented Reality-Brille erhalten. Ein High-End-Modell. Einer der ersten auf dem Markt erhältlich und definitiv der absolute Renner. Digital und analog kollidierten in harmonischer Einheit – eine Brille, die die Grenze zwischen beiden Welten auflöste.
Kaum hatte sie das Gerät aufgesetzt, wurde ihre Umgebung mit strahlenden Bildern und virtuellen Pop-ups überladen. Überall um sie herum schienen sich bunte Pixel zu tummeln. Sie manövrierte durch die Menüs und stieß auf eine App namens ‚Flüstertöne‘. Neugierig klickte sie darauf und ein Symbol, das aussah wie ein altes Telefon, erschien in der Mitte ihres Sichtfelds.
Was danach geschah, ließ Abby erschauern. Ihre sonst so ruhige Wohnung schien plötzlich voller Stimmen zu sein. Leise, fast unverständlich, wie ein Radiosender, der nicht richtig eingestellt ist. Sie hörten sich seltsam an, so weit entfernt und doch so nah.
Trotz der Beunruhigung hörte sie weiter zu. Irgendwie fühlte es sich richtig an, fast vertraut. Immer wieder konnte sie Worte herausfiltern: ‚Hilfe‘, ‚Sie kommen‘, ‚Dunkel‘. Sie war fasziniert, doch ein Gefühl von Unbehagen breitete sich in ihr aus. Geisterhafte Stimmen aus einer anderen Welt – das war doch nur ein weiterer trickreicher Algorithmus, oder?
Abby entschied sich, dem auf den Grund zu gehen und nahm ihr altes Radio aus dem Regal. Sie stimmte es auf die gleiche Frequenz ab, die in der App angezeigt wurde. Nichts. Nicht ein einziges Geräusch. Also musste es die App sein. Es musste ein Trick, ein Scherz sein. Oder?
Dennoch hielten die Stimmen sie nachts wach. ‚Verstecke dich‘, ‚Sie sind da‘, ‚Dunkel‘. Sie nahm die Brille ab, doch die Stimmen wurden lauter, klarer und eindringlicher. ‚Abby‘, hauchten sie jetzt, ‚Abby, sie sind hier.‘
Panik ergriff sie. Ihr Herzschlag dröhnte in ihren Ohren. Sie rannte zur Haustür, um zu fliehen. Doch sie stoppte abrupt, als sie die Tür öffnete. Dort stand ihre Nachbarin, Mrs. Henderson, ein sanftes Lächeln auf dem Gesicht. Doch etwas stimmte nicht. Ihre Haltung, die dunklen Ringe unter ihren Augen, der seltsame, verzerrte Ausdruck in ihren Augen.
Mrs. Henderson sprach: „Schönes Wetter, nicht wahr, Abby?“ Doch die Stimme passte nicht. Es war die gleiche, die Abby aus ihrer Brille kannte. Die Flüstertöne. Abby sprang zurück, schloss schnell die Tür und lehnte sich schwer atmend dagegen.
Die Brille lag dort, auf dem Tisch. Sie starrte Abby an, eine dunkle Präsenz in ihrem Wohnzimmer. Die Stimmen flüsterten weiterhin aus dem Lautsprecher, doch jetzt waren sie verzweifelt, flehend. ‚Lauf, Abby, lauf.‘
Abby zitterte. Ihre Augen waren auf die Brille gerichtet und ihre Gedanken rasten. Was waren diese Flüstertöne? Welche andere Welt hatten sie offenbart? Warum konnten nur sie diese Wesen sehen und warum konnten diese Wesen sie sehen? Der Gedanke machte ihr mehr Angst, als sie sich eingestehen wollte. Sie war nicht allein. Die Anderwelt hatte sie bemerkt.