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Flüsternde Schatten

Flüsternde Schatten

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Sie hatte die alte Villa Mitternacht erst vor einer Woche von ihrem verstorbenen Onkel geerbt. Ein riesiger, gotischer Bau, versteckt in einer verlassenen Ecke der Stadt. Seit ihrem Einzug bemerkte sie eine seltsame Präsenz. Erst waren es nur wispernde Laute in der Dunkelheit, verstummend sobald sie die Augen öffnete. Doch heute hatten die Schatten aufgehört zu flüstern… Sie sprachen jetzt deutlich.

Obwohl der Tag draußen noch warm und strahlend schien, fröstelte sie unter dem eisfilmigen Druck, der sich in der Villa ausbreitete. Die Finsternis mied hier das Licht nicht. Stattdessen saugte es die Sonne auf, verharrte still in den Ecken und sprach. Worte, die sie in einer Sprache flüsterten, die zu antiquiert und tiefgründig war, um von menschlichen Stimmbändern erschaffen zu werden.

Sie versuchte, sich zu beschäftigen, die unheimlichen Gespräche zu ignorieren, die sie in jedem Raum lauschte. Jedes Mal jedoch, wenn sie aufhörte, um Luft zu holen, um einen Moment innezuhalten, hörte sie diese Stimmen. Sie schlichen sich in ihr Bewusstsein, füllten sie mit Bildern von vergessenen Zeiten und gefrorenen Schreien.

In dieser Nacht konnte sie nicht mehr schlafen. Jeder Augenblick der Ruhe war ein Einladungsschreiben für die flüsternden Schatten, sie in ihren dunkelsten Winkel zu entführen. Müde und erschöpft entschied sie, der Sache auf den Grund zu gehen. Sie folgte den Stimmen, die sie in die tiefste Ebene der Villa führten, in einen Raum, den sie vorher noch nie gesehen hatte.

Die dunkle Kammer entpuppte sich als eine Art Bibliothek, in der unzählige Bücher, Pergamente und runenbesetzte Steintafeln lagen. In der Mitte des Raumes stand ein steinerner Altar mit dunklen, eingravierten Zeichen, die sie von den Flüstern zu erkennen schien. Sie bewegten sich, als wären sie lebendig und nahmen die Form der Schatten an.

Mit zitternden Händen berührte sie die Markierungen, und im nächsten Moment wurde sie von einer eisigen Kälte heimgesucht. Die Stimmen wurden lauter, sie hörten auf zu flüstern und schrien in ihr Ohr, in ihrem Kopf, bis sie in Dunkelheit versank.

Als sie erwachte, fand sie sich allein in der Bibliothek wieder. Aber etwas hatte sich verändert. Die kriechenden Schatten, die flüsternden Stimmen, sie waren verstummt. Doch ein Blick in den Spiegel enthüllte die schreckliche Wahrheit. Ihre Augen waren jetzt schwarz, so schwarz wie die Schatten, mit antiken Zeichen, wie auf dem Altar. Jetzt war sie die Flüsternde in der Dunkelheit.

Und während die Sonne in der Villa Mitternacht unterging, begann sie mit den Schatten zu sprechen, in einer Sprache, die zu antiquiert und tiefgründig war, um von menschlichen Stimmbändern erschaffen zu werden.

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