jeden Tag eine Geschichte
Fluch der Ahnen

Fluch der Ahnen

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Als die strike digitale Uhr Mitternacht ankündigte, klopfte es unerwartet an meiner Wohnungstür. Etwas genervt, aber auch ein wenig neugierig, ging ich zur Tür und öffnete vorsichtig. Vor mir stand ein kleiner alter Mann, ziemlich hager, mit zerzaustem Haar und durchdringenden Augen. In seinen zittrigen Händen hielt er ein umschlagförmiges Päckchen.

„Für dich“, flüsterte er mit fahriger Stimme und drückte mir das Päckchen in die Hand. Bevor ich irgendetwas sagen oder fragen konnte, verschwand der Alte mit hastigen Schritten in der Dunkelheit.

Neugierig öffnete ich das Päckchen und fand darin ein altes, ziemlich abgegriffenes Tagebuch. Der erste Eintrag stammte von 1820 und war von einem gewissen Arthur Spencer, meinem Ur-Ur-Ur-Urgroßvater. Erwähnungen von einem „Fluch“ und „unmenschlichen Entitäten“ ließen mir das Blut in den Adern gefrieren. Trotz meiner Furcht konnte ich nicht aufhören, weiter zu blättern und zu lesen.

Je weiter ich las, desto tiefer tauchte ich in die dunkle Vergangenheit meiner Familie ein. Jeder neue Eintrag erzählte von merkwürdigen Zeremonien und rituellen Zusammenkünften. Und dann stieß ich auf eine Zeichnung, ein Pentagramm mit unverständlichen Symbolen gekrönt von fünf brennenden Kerzen. Ein Gefühl der Beklemmung stieg in mir auf.

Plötzlich war die Wohnung in totale Dunkelheit getaucht. Die Kälte kroch meinen Rücken hinauf und ich hörte ein kaum wahrnehmbares Flüstern, als würde eine milde Brise alte Vorhänge aufwehen lassen. Doch noch eindringlicher war das Gefühl, dass ich nicht mehr allein war.

Eine Gestalt, nur knapp sichtbar im schwachen Licht, das durch das Fenster fiel, stand in der Mitte des Raumes. Festgenagelt vor Furcht, wagte ich kaum zu atmen. Mit einem Ruck stellte die Gestalt plötzlich eine Kerze auf den Fußboden und zündete sie an. Dann eine zweite und eine dritte, bis schließlich fünf Kerzen im Pentagramm-Muster leuchteten. Das Flüstern wurde lauter, füllte den Raum mit fremden Worten und einer Kälte, die das Mark in meinen Knochen fror.

Als die Gestalt wieder verschwand, war ich allein mit den flackernden Kerzen und dem Gefühl einer uralten Präsenz. Die letzten Worte in meinem Vorfahrens Tagebuch hallten in meinem Kopf wider: „Der Fluch lebt fort, in den Blutsadern der Nachkommen.“

Ich verstehe jetzt, dass der Fluch der Ahnen kein einfacher Aberglaube war. Er war echt, und ich konnte ihn spüren, in meinem Blut und in meinem Körper. Aber was bedeutete das für mich? War ich dazu verdammt, gekettet an die Vergangenheit, diese nächtlichen Besuche und das Flüstern zu ertragen?

Vielleicht war es das, was der alte Mann mir sagen wollte. Vielleicht war er der vorherige Träger des Fluches. Aber konnte ich damit leben? Und was würde passieren, wenn ich nicht mehr konnte? Was wenn der Fluch einen tödlichen Preis fordert?

Die Fragen hängen in der Luft, wie der kalte Atem einer vergessenen Vergangenheit. Und während die Kerzen vor mir weiter flackern, weiß ich, dass ich die Antworten erst finden werde, wenn es vielleicht schon zu spät ist.

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