jeden Tag eine Geschichte
Dunkle Sehnsucht

Dunkle Sehnsucht

Jessie war eine 22-jährige Studentin, deren Leben recht unspektakulär verlief. Einzig ihr Smartphone war ihr ständiger Begleiter, ihr Fenster zu einer Welt, die interessanter schien als die eigene. Nachrichten, Social Media, Serien – sie war Abonnentin des digitalen Konzerts.

Eines Nachts klinkte sich eine unbekannte App in ihr Leben ein. Ein rotes Herz-Icon mit der Bezeichnung „Dunkle Sehnsucht“ erschien auf ihrem Bildschirm. Neugier ließ sie die App öffnen. Ein einfacher schwarzer Bildschirm mit weißen Lettern zeigte einen einzigen Satz: „Tippe, um Deinem Sehnen zu begegnen.“ Jessie tippte – aus Neugier.

Sofort erfüllte ein erregendes Flüstern ihren Raum, das aus dem Nichts zu kommen schien. Erstaunt sah Jessie sich um, das Flüstern wurde lauter, intensiver und verführerisch gruselig. Ein unsichtbarer Atem hauchte ihren Namen. Ihr Herz hämmerte. Panik veranlasste sie, die App zu schließen, doch es war zu spät.

Seit dieser Nacht erhielt sie mysteriöse Nachrichten, die ihren tiefsten Wünschen glichen, aber stets von einem beunruhigenden Unterton begleitet wurden. Phantasien, von denen sie glaubte, sie seien allein in ihrer Gedankenwelt, manifestierten sich als Korrespondenz von einem unbekannten Absender. Mit jedem Alert, jeder Vibration wurde die Atmosphäre dichter. Die Dunkelheit, die anfangs nur auf dem Bildschirm begann, breitete sich aus und tauchte ihr ganzes Leben in einen Schatten.

Erst waren es nur Texte, dann begannen Bilder dazu zu kommen, surrealistische Interpretationen ihrer Wünsche. Bilder von ihr, in Situationen, die sie erniedrigten, demütigten, und dennoch sie in purer Ekstase zeigten. Schrecken und Anziehung – eine gefährliche Mischung, die sie in ihren Bann zog.

Tage vergingen und die Dunkelheit vergiftete ihren Verstand. Sie begann, Schlaf zu meiden, aus Angst, die Dunkelheit würde sie endgültig verschlingen. Ihre Realität wurde zum bizarren Albtraum. Sie sah verdrehte Schatten in jeder Spiegelung, hörte das Flüstern, wann immer sie alleine war.

An einem Abend, nach dem sie eine besonders beängstigende Nachricht bekommen hatte, schrieb sie: „Wer bist du?“ Eine schattenlose Silhouette erschien auf ihrem Bildschirm. „Deine dunkle Sehnsucht“, antwortete es.

Sie wollte die App löschen. Doch als sie es versuchte, wurde ihr Display schwarz, und das Flüstern verstummte. Erleichtert atmete sie auf, aber dann, aus der Stille, erscholl eine tiefes, raunendes Lachen. Als sie in die Dunkelheit auf dem Bildschirm starrte, schien diese sich zu bewegen. Zwei lichtdurchdrungene Augen öffneten sich. Sie starrten aus dem Nichts direkt auf Jessie. Die Dunkelheit hatte sie gefunden.

Wie lange sie so dasaß, und in das schwarze Display stierte, wusste sie nicht. Als sie aufsah, war es Tag. Ihre Welt war normal. Und nur das Herz-Icon auf dem Display erinnerte an die Nacht. Sie wagte es nicht, die App zu öffnen. Als sie es dennoch tat, war sie leer.

Das Mysterium löste sich nie auf. Doch Jessie ist seither anders. Wenn sie das display ihres Smartphones anstarrt, zittert sie ein wenig, und sie behauptet, sie könne das flüsternde Lachen hören. Ihre langen Nächte alleine mit ihrem Smartphone vermied sie, und ihre Träume sind voller dunkler Schatten. Sie ahnt, dass die Dunkelheit noch da ist, irgendwo, wartend. Was sie ausgelöst hat gleicht einem Riss in einer unsichtbaren Welt, der jederzeit weiter aufbrechen könnte. Je näher sie dieser Dunkelheit kommt, desto größer die Angst, was sie als nächstes freisetzen könnte.

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