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Die Tränen der Geister

Die Tränen der Geister

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Es war eine stürmische Nacht, als Amy, eine entzückende junge Frau mit einem leichten Glauben an übernatürliche Aktivitäten, auf Instagram eine Annonce entdeckte. Es bot eine kostenlose Übernachtung in einer angeblich geistvollen Villa. Mit einem ausgeprägten Sinn für Abenteuer und einer spurlosen Woche vor Augen, buchte sie ohne zu zögern.

Amy kam an, nach einer langen Fahrt durch den dunklen, fast leblosen Wald, der die alte Villa umgab. Sie wurde von einem alten Haushälter in der riesigen Halle begrüßt, deren Wände mit alanischen Ölgemälden und einem knisternden Kaminfeuer dekoriert waren. Nach einem kurzen Austausch von Nicklichkeiten brachte er sie in ihr Zimmer und wünschte ihr eine „angenehme“ Nacht.

Die Nacht war dunkel und gedämpft. Das Heulen des Windes, das Pfeifen alter Holzbretter und das Quietschen ihres Bettes sorgten für einen unruhigen Schlaf. In den frühen Morgenstunden weckte ein seltsames Geräusch sie auf. Das Geräusch, das sie nicht als den Wind oder das Haus identifizieren konnte. Es klang fast wie… Schluchzen.

Sie erhob sich und folgte den Lauten durch die langen, kalten Flure, durch den großen Ballsaal, bis sie vor einer verschlossenen Tür stand. Hier schien der Ton am lautesten zu sein. Sie zögerte zuerst, doch ihre Neugierde ließ sie den eisernen Türgriff drehen und die Tür aufstoßen.

Ein kalter Windzug erfüllte den Raum, aber es gab keine sichtbaren Fenster oder Löcher. Ein einziges Kerzenlicht flackerte im Raum. Eine Reihe alter Fotoalben lag auf einem massiven Mahagonitisch. Sie zog vorsichtig das erste Album heraus und öffnete es. Die Fotos zeigten eine glückliche Familie, lachende Kinder, und dann… stand sie selbst auf einem Foto, lächelnd und winkend, neben einer Figur, die sie nicht erkennen konnte.

Angst ergriff sie, und sie fühlte plötzlich, wie eine eiskalte Träne auf ihren Handrücken fiel. Amy sah auf und bemerkte, wie die Tränen aus dem Nichts fielen. Tränen, die wie Diamanten in der flackernden Kerzenflamme funkelten. Aber es gab keine Quelle, kein Gesicht von dem sie fielen. Nur stille, kalte Tränen, die auf die alten Fotoalben tropften und kleine Wasserflecken hinterließen.

Mit einem Schrei ließ sie das Album fallen und sprintete zur Tür. Doch im Kaminzimmer stolperte sie. Als sie aufblickte, sah sie ihr eigenes Spiegelbild in einem antiken Spiegel. Aber da stand sie nicht allein, eine unzählige Menge an traurigen, weinenden Gesichtern schaute sie an, ihre Lippen bewegten sich stumm und ihre Augen waren voller Tränen.

Als der Morgen kam, fand der alte Haushälter Amy bewusstlos auf dem Boden. Es war nicht das erste Mal, dass er solch einen Anblick hatte. Sein müdes Gesicht verzog sich in ein trauriges Lächeln, als er bemerkte, dass die Anzahl der Tränen auf dem Teppich zugenommen hatte. Es waren die Tränen der Geister, ihrer nicht enden wollenden Trauer, und jetzt, ihre Briefmarke auch auf dem jungen Mädchen.

Als Amy einige Stunden später aufwachte, war sie in einem Krankenhausbett, ohne Erinnerung daran, was in der Villa passiert war. Das einzige Zeichen der Nacht waren die kalten, trockenen Tränenspuren auf ihrer Handfläche und der unerklärliche Schatten der Traurigkeit, der in ihren Augen lag. Die unbekannte Traurigkeit, die nicht ihre eigene war, sondern die der unsichtbaren Tränen.

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