jeden Tag eine Geschichte
Die Schreie der Vergessenen

Die Schreie der Vergessenen

1959

Es fing mit leisen Flüstern an. Flüstern, so leise, dass man meinen könnte, es sei nur der Wind, der durch die Blätter eines Baum streift. Doch Blake, der in einem monotonen Bürojob feststeckte, hörte sie. Anfangs waren sie kaum wahrnehmbar und störten ihn nur gelegentlich beim Arbeiten.

Tag um Tag wurden sie jedoch lauter und intensiver: unverkennbare menschliche Stimmen aus allen Richtungen, scheinbar aus dem Nichts. Sie flehten um Hilfe, bettelten um Erlösung und schrieen vor Qualen. Blake verdrehte die Augen, rieb sich schmerzhaft die Schläfen und hörte, wie sie seinen Namen riefen: immer und immer wieder.

Sie störten ihn mittlerweile bei der Arbeit, hielten ihn nachts wach. Die Schreie der Vergessenen bedeuteten eine nicht enden wollende Tortur. Kein Arzt konnte helfen, kein Medikament konnte die Stimmen zum Schweigen bringen. Blake begann, seinen Verstand in Frage zu stellen.

Seine Isolierung schlief nach und nach in eine obsessive Suche, das Mystifizieren der Geräusche, die nur er zu hören schien. Blake fing an, alte Zeitungsartikel zu durchwühlen, besuchte Büchereien und durchforstete das Internet, getrieben von einer verzweifelten Hoffnung, den Ursprung der Geisterstimmen zu finden.

In verstaubten Archiven fand er schließlich einen Zeitungsartikel, der gut hundert Jahre alt war. Das kleine Städtchen, in dem er lebte, war einst die Heimat einer psychischen Anstalt gewesen. Ein Ort voller Grauen, in dem die Insassen weit weniger als Menschen behandelt wurden. Sie wurden in dunklen Zellen gehalten, vernachlässigt, geschlagen und oft bis zum Tod gefoltert. Die Anstalt wurde schließlich geschlossen und alle Akten „zufällig“ vernichtet, ihre Schreie ins Reich der Vergessenheit verbannt. Tief erschüttert hielt Blake den alten Zeitungsartikel in seiner zitternden Hand.

Er war der Einzige, der ihnen zuhörte, der Einzige, dem sie zu vertrauen schienen. Vielleicht war es, weil er selbst ein Einsiedler war, missverstanden von einer Welt, die ihn nicht zu verstehen schien, gerade so, wie sie es waren.

Nachts lag Blake in seinem Bett und hörte auf die Stimmen. Sie erzählten ihm von ihrer Qual, von ihrer Sehnsucht nach Erlösung und Gerechtigkeit. Und Blake weinte, schrie mit ihnen und kämpfte um seinen restlichen Verstand.

So vergingen die Tage, dann Wochen, und die Stimmen wurden immer leiser. Sie schienen zu spüren, dass jemand ihre Geschichten gehört, dass jemand ihre Qualen anerkannt hatte. Eine nach der anderen verstummten die Stimmen, als ob sie endlich ihren Frieden gefunden hätten. Bald war Stille das Einzige, was Blake hörte.

Doch die Stille war nicht die Erleichterung, die Blake ersehnt hatte. Sie war kalt und leer, ein Echo seiner eigenen Einsamkeit. Der Schmerz der Stimmen war nun sein eigener geworden, ihre Qualen sein unbeantwortetes Echo.

Blakes Leben bestand nun nicht mehr nur aus Stimmen, es wurde selbst zur schreienden Stille. Eine Stille, die vielleicht irgendwann von jemandem gehört wird. Jemandem wie Blake, der sich in der Dunkelheit verirrt hat und die Schreie der Vergessenen zu hören beginnt.

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