jeden Tag eine Geschichte
Der Spiegel, der zuflüsterte

Der Spiegel, der zuflüsterte

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Mitten im Herzen einer pulsierenden Stadt stand das Haus. Eine schmale Seitengasse, kaum mehr als eine Lücke zwischen den modernen Betonklötzen, führte zu seinem veralteten Eingang. Im Gegensatz zu den Glas- und Stahlgebilden, die den Rest der Stadt überzogen, sprach das Haus von einer anderen Zeit. Das dunkle Holz war alt und knackte unter der kleinsten Bewegung. Die Fenster waren mit dicken Vorhängen verhängt, auf denen der Staub der Jahre lag. Es gab keinen Namen auf dem Klingelschild, nur die Nummer 12.

Der einzige Bewohner von Nummer 12 war Tom, ein junger Journalist. Er hatte das Haus geerbt und trotz Warnungen von neugierigen Nachbarn, dass es einen merkwürdigen Spiegel enthielt, entschieden, einzuziehen.

Der Spiegel, groß und rund in einem edlen Holzrahmen, hing in Toms Schlafzimmer. Oft lag Tom nachts wach und starrte in den Spiegel. Es war, als würde der Spiegel ihn nicht nur reflektieren, sondern auch etwas anderes – etwas, das sich in ihm verbarg und darauf wartete, enthüllt zu werden.

Eines Nachts hörte Tom ein leises Flüstern. Es war kaum mehr als ein Hauch, kaum zu hören über dem ständigen Summen der Stadt. Aber es war da. Und es kam aus dem Spiegel.

Die nächsten Nächte waren schlimmer. Das Flüstern wurde lauter, dringlicher. Ein ständiges Murmeln, das die Ruhe der Nacht durchzog und in Toms Kopf widerhallte. Er konnte die Worte nicht verstehen, aber er wusste, dass sie für ihn bestimmt waren.

Tom hatte Angst, aber auch Neugierde. Er konnte nicht widerstehen und starrte jede Nacht in den Spiegel, stundenlang, in der Hoffnung, die Worte zu verstehen. Und eines Nachts, als das Flüstern schließlich klar wurde, wünschte er sich, er hätte es nie getan.

„Setz mich frei“, drangen die Worte aus dem Spiegel, zähflüssig und voll dunkler Dringlichkeit. Es war keine Bitte, es war ein Befehl.

Tom war fassungslos, dann begann er zu recherchieren. In Archiven, Bibliotheken, auf Blogs und Foren, suchte er nach Antworten. Was er fand, ließ ihn erschauern. Der Spiegel war vor Jahrhunderten Teil eines dunklen Rituals gewesen, um eine uralte Entität einzufangen und einzusperren. Diese Entität war zerstörerisch und böse, ein Ding von unaussprechlicher Dunkelheit, gefangen in der öden Landschaft des Spiegels.

„Setz mich frei“, flüsterte der Spiegel jede Nacht. Und jede Nacht wurde es schwieriger für Tom, zu widerstehen. Die Versuchung, dem Flüstern zu folgen, wurde mächtiger. Bis schließlich eine Nacht kam, in der er es nicht mehr ertragen konnte.

Tom schlüpfte in den Spiegel, in die Dunkelheit, um die Entität zu befreien. Aber die Entität war nicht dankbar. Sie ließ Tom in ihrer kalten, glänzenden Welt zurück und schlüpfte in seine, um in Freiheit zu wüten.

Seitdem ist Nummer 12 leer. Der Spiegel hängt noch immer dort, im Schlafzimmer, trübe und schweigend. Und wenn man nachts an ihm vorbeigeht, kann man manchmal ein leises Flüstern hören. Ein leises, verzweifeltes Flüstern, das aus dem Herzen der Dunkelheit dringt:

„Setz mich frei.“

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