Liam saß auf seinem Bett, das Gesicht in den Händen vergraben. Er knetete seine Schläfen und starrte auf den dunklen Eichenboden seines Zimmers. In seinen verängstigten Gedanken waren es die Konturen der Gesichter, die Bilder der steinernen Ungeheuer die seinen Schlaf raubten.
Ziehend an den Ärmeln seines Sweatshirts, verließ er schließlich sein Zimmer und trat hinaus in den kargen, mondbeschienenen Garten. Inmitten der sich überschlagenden Dunkelheit streckten sich die eisigen Silhouetten seiner Gegner entgegen – die Gargoyles.
Aufgereiht wie Wächter einer alten Festung thronten sie auf hohen Sockeln, die ihren mächtigen Klauen, ausgehöhlten Augen und grimmigen Mündern Tribut zollten. Einige, die kleineren, klammerten sich fast ängstlich an ihre Sockel, andere schienen bereit, einen jeden Eindringling mit offenen Krallen zu empfangen. Doch all diese Figuren hatten etwas gemeinsam – ihre Augen.
Die Augen der Gargoyles waren aus Edelsteinen gefertigt, Augen in allen erdenklichen Farben und Formen. Einige schienen bei direktem Blickkontakt sogar ein funkelndes Eigenleben zu entfalten. Ihre steinernen Blicke verfolgten Liam, egal wo er im Garten stand. Sie verfolgten ihn auf seinem Weg zur Schule, sie beobachteten ihn durch sein Schlafzimmerfenster und sie starrten ihn an, wenn er versuchte, in seinen Alpträumen Zuflucht zu suchen.
Es hatte begonnen, als seine Eltern das alte viktorianische Herrenhaus gekauft hatten. Die Statuen waren bereits Teil der Immobilie gewesen und sein Vater, ein leidenschaftlicher Antiquitätenhändler, hatte sich in die Gargoyles verliebt. Doch mit jeder Nacht, in der Liam von den wachsamen steinernen Augen beobachtet wurde, wurde er sich des düsteren Geheimnisses, das sie innewohnte, stärker bewusst.
Eines eisig kalten Abends, gepeinigt von erneuten Albträumen, warf er sich seine Jacke über und trat erneut in den Garten. Die Gargoyles empfingen ihn mit ihren leeren, stechenden Blicken. Er ging auf die nächste Figur zu und starrte direkt in das grüne Edelstein-Auge. Plötzlich fühlte er einen kalten, stechenden Windstoß und hörte ein fast unhörbares Flüstern. Er stolperte rückwärts, starr vor Schreck.
Was er hörte, waren Stimmen – zornige, verzweifelte, weinende Stimmen. Sie riefen um Hilfe, flehten um Erlösung und drohten mit Vergeltung. Sie erzählten ihm Geschichten aus ihren leben – Geschichten von Krieg, Leid und verlorenen Seelen. Geschichten, die in ihren steinernen Hüllen eingesperrt waren, bewacht von den leuchtenden Augen der Gargoyles.
Liam versuchte, es seinen Eltern zu erzählen, doch sie winkten es ab als kindliche Albträume und Fantasien. Aber die Stimmen wurden lauter, ihre Geschichten dunkler und ihre Drohungen eindringlicher.
Eine Nacht wachte er auf, das Mondlicht fiel auf sein Bett und die Gargoyles erstrahlten in ihrem kalten Leuchten. Plötzlich spürte er einen scharfen Schmerz in seinen Händen. Er sah herunter und fand, dass seine Finger sich zu harten, steinartigen Klauen entwickelten.
Er schrie auf und starrte entsetzt auf seine Hände. Dann drehte er sich um und sah sich direkt in den Augen eines Gargoyles widergespiegelt. Ein unbekannter Schrecken überkam ihn, sein Spiegelbild in den kalten, leuchtenden Augen der Statue war nicht mehr sein eigenes sondern das eines steinernen Monsters.
Der Gedanke an die folgende Entfremdung ist ebenso quälend wie das Wissen um seine eigene unausweichliche Veränderung. Die Frage, die in seinem Kopf pocht ist, wie viele der Gargoyles waren einst Menschen, ziellos und voller Angst, genau wie er jetzt?