jeden Tag eine Geschichte
Das Geheimnis der kalten Hände

Das Geheimnis der kalten Hände

1

Der Raum ist in flackerndes Kerzenlicht getaucht, Schatten tanzen auf den alten Steinwänden einer verlassenen Hütte mitten im Wald. Jonah, bettet seine Hand auf einem verwitterten, staubigen Tisch als ein Hauch von kalter Luft ihn streift. Ein Stöhnen hallt durch die Dunkelheit. Es kommt von seiner Linken, genauso verängstigt wie er. Schweiß perlt auf seiner Stirn, sein Herzschlag trommelt in seinen Ohren, Angst füllt seinen Magen. Trotzdem stählt er sich und sieht seinen Freund Elias an, der mit ihm in diesem verfluchten Ort gefangen ist.

„Berühre es, Jonah. Vielleicht findest du eine Möglichkeit uns hier rauszubringen,“ ermutigt Elias, seine Stimme ein heiseres Flüstern, kaum hörbar über dem Knistern des Windes draußen. Jonah schluckt schwer, beugt sich vor und reicht seine Hand aus, um das seltsame Artefakt zu berühren, das in der Mitte des Tisches liegt. Es ist eine blasse, fast durchscheinende Hand, die trotz des staubigen, kalten Raums merkwürdig glatt und warm zu sein scheint. Eine kalte Hand, die nicht von dieser Welt zu sein scheint.

Noch bevor er sie berühren kann, zucken Jonah’s Finger zurück, als ob seine Sinne ihn vor etwas Unnatürlichem warnen. Aber der Gedanke an ein entsetztes, klaustrophobisches Gefühl übermannt ihn. Er schließt die Augen, atmet tief ein und streckt langsam seine Hand aus, seine Finger leicht zitternd.

Die Kühle der Hand durchdringt seine Haut, hüllt seine Finger ein. Ein unerklärlicher Schauder durchfährt ihn, seine Knie werden weich und sein Kopf wird leicht. Ein kalter Wind bläst durch den Raum, löscht die Kerzen aus und taucht die Hütte in Dunkelheit. Flüsternde Stimmen hallen durch seine Ohren, unverständliche Worte, die ihn mit Terror füllen. Er versucht loszulassen, aber es ist zu spät. Etwas hat ihn eingeholt.

Es fühlt sich an wie ein Sog, der Jonah von der Realität wegzieht. Er spürt, wie sein Bewusstsein durch Raum und Zeit geschleudert wird, durch Erinnerungen und Gedanken, dunkle Ecken seiner Psyche, vor denen er sich selbst versteckt hatte. Er ist in der Dunkelheit gelandet, umgeben von Dingen, die er nicht verstehen kann – und plötzlich ist er mitten in einem eiskalten Ozean und versucht verzweifelt, Luft zu holen.

„Jonah!“ Elias‘ panische Rufe hallen in der Dunkelheit. Er kann das Entsetzen in Elias Gesicht nicht sehen, aber er kann es in seiner Stimme hören. Jonah vertreibt die Dunkelheit aus seinen Gedanken, kämpft sich zurück zur Realität, kämpft gegen den eisigen Griff der Hand, die ihn immer tiefer ins Dunkel zieht.

Es fühlt sich wie eine Ewigkeit an, bis Jonah schließlich die Hand von der fahlen Haut reißen kann. Er stolpert zurück, stürzt zu Boden, keucht. Elias‘ verzweifelte Schreie hallen in seinem Kopf nach, verstreuen sich langsam im leisen Rauschen des Waldes, während die Dunkelheit sich auflöst und von einem schwachen Mondschein abgelöst wird. Die Hand ist verschwunden, hat nur Staub und getrocknete Blätter zurückgelassen. Aber die Erinnerungen, die Kälte, sie haften an Jonah wie eine zweite Haut.

Etwas hat sich in Jonah verändert. Er spürt es, wenn er Elias anschaut – wenn er sich selbst im Spiegel betrachtet. Es klammert sich an ihm fest, flüstert ihm seine tiefsten Ängste ins Ohr, zeigt ihm die dunkelsten Winkel seines Selbst. Er kann sich nicht mehr vor der Dunkelheit verstecken, nicht mehr vor der Kälte in seinen Händen – nicht mehr vor sich selbst.

Und dann wird ihm klar, in der unerbittlichen Stille der Nacht, dass das wahre Geheimnis der kalten Hände nicht das Unbekannte ist, nicht das Übernatürliche – es ist die eisige Wahrheit, die in uns selbst verborgen ist. Das Unbekannte in uns, das wir uns weigern anzuerkennen, das uns Angst macht. Und das Echo dieses Verständnisses hallt in ihm nach, während er in der Dunkelheit bleibt, gefangen in seinem eigenen Verstand, in seinem eigenen Schrecken, mit dem unerbittlichen Flüstern der kalten Hände.

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