jeden Tag eine Geschichte
Abgrundtief

Abgrundtief

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Die düsteren Wolken, die über der Stadt hängen, sind ein Vorgeschmack auf das, was die Einwohner erwartet. Seit Wochen erleben sie alle, junge und alte Bewohner, schreckliche Albträume, die sie in ihren Schlafplänen stören. Schlafentzug, Furcht und Paranoia sind mittlerweile allgegenwärtig.

Mitten in der Stadt, auf einem kleinen Hügel, steht ein alter, vernachlässigter Brunnen. Kinder werden immer wieder davor gewarnt, sich dem Brunnen zu nähern. Doch die Neugier der Kinder hat, wie so oft, die Oberhand gewonnen. Der 10-jährige Paul, das Draufgänger-Kind des Städtchens, beschloss, der Sache ein Ende zu setzen. Mit einer alten Taschenlampe bewaffnet, die er von seinem Großvater geerbt hat, nähert er sich langsam dem alten Kastanienbaum neben dem alternden Brunnen.

Er starrte in die Tiefe des Brunnens. Da war nichts. Nur Dunkelheit. Paul schaltete seine Taschenlampe ein und warf den Lichtstrahl in die Tiefen des Brunnens, doch das Licht schien von der Dunkelheit verschluckt zu werden. Plötzlich spürte Paul eine eisige Hand, die sich um seinen Knöchel legte und bevor er reagieren konnte, wurde er mitreißender Kraft in den Brunnen gezogen.

Als der nächste Tag anbrach, hatte noch niemand bemerkt, dass Paul verschwunden war. Doch seine Mutter suchte ihn schließlich überall in der Stadt. Als sie den Kastanienbaum und den Brunnen erreichte, sah sie Pauls verlassene Taschenlampe. Sie schrie vor Furcht und die gesamte Stadtgemeinde kam zusammen, um ins Ungewisse hinabzuschauen.

Tage vergingen, und trotz der unermüdlichen Suche fand niemand Paul. Die Albträume der Stadtbewohner verschlimmerten sich, jeder Schlaf war nun von Schrecken geplagt. Lauter, schriller, realer. Viele berichteten von Pauls angsterfülltem Gesicht und einer dunklen Gestalt, die aus den tiefsten Tiefen des Brunnens hinter ihm aufstieg.

Weitere Kinder verschwanden ebenfalls. Einer nach dem anderen. Der alte Brunnen wurde zum Synonym für Angst und Verlust. Niemand traute sich mehr, sich ihm zu nähern. Die Bewohner sahen hilflos zu, wie ihre Kinder in den unergründlichen Tiefen des alten Brunnens verschwanden, wie Rauch in der Dunkelheit.

In einer besonders stürmischen Nacht, als der Wind heulte und der alte Kastanienbaum gegen die Windböen ankämpfte, gab es plötzlich einen grellen Lichtblitz vom Brunnen, gefolgt von einem tosenden Lärm. Und dann absolute Stille. Am nächsten Morgen war der Brunnen verschwunden, eine Gruppe Kastanienbäume stand jetzt auf dem Hügel, als ob der Brunnen nie existiert hätte.

Aber etwas war anders. Die Kinder, die Zuerst verschwunden waren, kehrten zurück. Eines nach dem anderen. Aber sie sagten nichts. Sie waren still und benommen. Ihre Augen blickten in die Weite, als würden sie noch immer von den bleibenden Eindrücken des Abgrundes gepeinigt. Die Albträume, die die Stadt geplagt hatten, hörten auf. Aber die Dunkelheit, sie schien tiefer, dichter. Es war, als ob ein Teil des Abgrundes in jeder einzelnen Seele der Stadt eingebrannt war.

Die Geschichte von Paul und dem Abgrundbrunnen bleibt noch heute in Erfahrung. Die Stadtbewohner schlafen besser, aber niemand wagt es, über ihre Träume zu sprechen. Und die dunklen Wolken über der Stadt, sie sind geblieben. Sie wirken dunkler, dichter. Wie ein ständiger, stiller Zeuge der schrecklichen Begegnung mit dem Abgrund.

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