jeden Tag eine Geschichte
Abgründe der Seele

Abgründe der Seele

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Seit Tagen verfolgte Joel denselben Albtraum. Totenstille. Dunkelheit. Und doch hatte er das Gefühl, gefesselt und einzig von einer flackernden Kerzenflamme beleuchtet, inmitten eines riesigen Raumes zu sitzen. Zahllose, in der Dunkelheit lauernde Augen beobachteten ihn. Und er konnte sie hören. Das Flüstern. Leise und doch ohrenbetäubend. Ängstliche Sekunden erstreckten sich zu quälenden Stunden, in denen das Flüstern immer lauter wurde, immer anspruchsvoller, bis sich schließlich eine einzige, verständliche Botschaft formte: „Finden“.

Tagsüber schien alles normal, als ob nichts gewesen wäre. Doch der Albtraum verschwamm nie gänzlich mit der Realität. Das subtile „Finden“ verfolgte ihn in seinem Alltag. Es war immer da, eine stille Erinnerung an die Dunkelheit.

Joel entschied sich, dem Flüstern nachzugehen, in der Hoffnung, das Rätsel seines Alptraums zu lösen. Er versuchte alles, um herauszufinden, was er suchen sollte. Er durchwühlte alte Familienfotos, durchstöberte Bücher und überprüfte jeden morbiden Gedanken. Nichts führte zu einer entlastenden Antwort. Nach Tagen der Suche und Nächte, die ihn immer wieder in die Dunkelheit führten, wurde Joel von einer grässlichen Erschöpfung und tiefer Verzweiflung ergriffen.

Spät in einer dieser schlaflosen Nächte passierte es. Joels Blick fiel auf einen alten Spiegel, der seit Generationen in seiner Familie weitergegeben wurde. Als er in die schimmernde Reflexion blickte, fühlte er eine ungeheure Anziehungskraft. Und dann hörte er es, das Flüstern aus seinem Albtraum. „Finden“, es wehte aus dem Rahmen des Spiegels. Er konnte es spüren, hier war es, wonach er suchte.

Als Joel dem Spiegel näherkam, wurde seine Reflexion dunkler, fast wie ein Schatten. Und plötzlich gab es einen schreckenerregenden Moment der Klarheit. Die Augen in der Dunkelheit, das Flüstern, es war er selbst. Jene Dunkelheit war keine äußere Kraft, sie war in ihm. Verängstigt dämmerte ihm die Erkenntnis seiner eigenen inneren Abgründe, die er seit langem verdrängt hatte.

Er starrte auf die dunkle Reflexion. Es war, als würde ein lebender Albtraum auf ihn zurückstarren, das Flaggschiff all seiner tiefsten Ängste und dunkelsten Geheimnisse. Er realisierte, dass die Augen, die ihn verfolgten, seine eigenen waren, und das Flüstern war die stille Bitte seiner Seele an ihn, sie zu finden und anzuerkennen.

Joel sank auf die Knie, überwältigt von der enormen Last der Realisation. Die dunklen Abgründe seiner Seele hatten ihn eingeholt und ihm ein Spiegelbild seiner selbst präsentiert, das er kaum ertragen konnte. Er war das verlorene Kind in der Dunkelheit, und das Unheimliche war, dass er selbst der Albtraum war, der dieses Kind verfolgte.

Die Dunkelheit in sich anzuerkennen und zu konfrontieren war für ihn furchtbarer, als jeder gesichtslose Albtraum es je sein könnte. In diesem Moment stand Joel am Rande eines schrecklichen Abgrunds, der keiner war, den man leicht überqueren könnte.

War es also das, was er finden sollte? Hatte er sich in den Abgründen seiner Seele verloren und versuchte nun, seinen Weg zurück zu finden? Sein Herz ertrank in Angst, aber es gab keinen anderen Weg als hinabzusteigen… in die Abgründe seiner Seele.

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