jeden Tag eine Geschichte
Flüstern der Vergessenen

Flüstern der Vergessenen

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Es begann immer im Morgengrauen. Erst war es ein kaum hörbares Murmeln, das Juliet in ihren Schlaf eindrang. Dann wurde es zum Flüstern, eine sanfte Stimme, so fein wie ein Spinnwebenfaden im Wind. Sie wollten ihr etwas mitteilen, die Vergessenen. Doch die Worte waren für sie unverständlich, getragen von einem endlosen Echo von Verlust und Trauer.

Juliet hatte die alte Villa erst vor kurzem geerbt. Sie stand allein auf einer Klippe, die auf die rauhen Wellen des Meeres hinabblickte. Es war ein wahrhaft grandioser, wenn auch trostloser Ort. Niemand war dort oben gewesen, seit Julies Großtante dort vor mehr als 20 Jahren verschwunden war. Nun gehörte das Anwesen ihr und es schien, als ob es nicht nur die physischen, sondern auch die geisterhaften Bewohner mit eingeschlossen hatte.

Das Flüstern begann nicht sofort, nachdem sie eingezogen war. Anfangs war alles still, bis auf das Rauschen des Windes und das Knirschen der alten Holzdielen. Doch dann, nach einer Woche, wachten sie die ersten, kaum wahrnehmbaren Geräusche auf. Jeden Morgen, genau um 3.33 Uhr. Aber die Worte, die sie zu ihr trugen, waren und blieben unverständlich.

Juliet versuchte, einen Sinn darin zu finden. Sie nahm das Flüstern auf ihrem Handy auf und spielte es wieder und wieder ab, ohne Erfolg. Sie las Bücher über Okkultismus und Geisterbeschwörung, sie besuchte sogar einen mittelalterlichen Weisen auf Rat ihrer Freunde. Dennoch blieb das Rätsel ungelöst.

Bis jenen Tag, als sie durch einen der vielen, staubigen Räume des Hauses streifte und auf ein altes, verstaubtes Tagebuch stieß. Es gehörte ihrer Großtante. Juliet blätterte durch die vergilbten Seiten und fand Eintrag für Eintrag Beschreibungen von flüsternden Stimmen und einem Geheimnis, das tief im Herzen dieses alten Hauses vergraben lag.

Ein Geheimnis, das ihre Großtante verschluckt hat. Und nun schien es, als wäre sie an der Reihe.

Sie begann, das Haus zu erkunden, erkundete jeden Raum, jeden Winkel, auf der Suche nach dem Geheimnis, das das anhaltende Flüstern beenden könnte. Sie fand schließlich eine versteckte Luke unter dem Teppich im Schlafzimmer ihrer Tante. Sie führte hinab in einen geheimen Keller, dunkel und feucht, mit Wänden bedeckt von menschlichen Schatten, eingemeißelt in Stein.

Plötzlich verstummte das Flüstern auf ihrem Handy-Aufnahme, es war Totenstille. Nur ein Satz, klar und deutlich, hallte durch den Raum: „Willkommen zuhause, Juliet.“

Als Juliet das nächste Mal die Augen öffnete, lag sie in ihrem eigenen Bett und die Sonne ging auf. Es waren keine flüsternden Stimmen mehr zu hören, nichts als das sanfte Rauschen des Windes, der durch das offene Fenster wehte. Doch jede Nacht um 3.33 Uhr, erwachte sie nun auf. Sie kannte nun das Geheimnis der Villa, sie kannte die Stimmen der Vergessenen, sie waren ihr eigenes Echo, ihr eigenes Schicksal. Doch die Außenwelt glaubt ihr nicht. Sind es die Stimmen der Vergessenen oder ist es der Klang der eigenen Isolation? Das letzte Flüstern der Vergessenen, es war still geworden.

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