jeden Tag eine Geschichte
Geisterwind

Geisterwind

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Es war ein typischer Abend in der Kleinstadt Hillstone. Die goldgerahmten Fotografien aus vergangenen Zeiten zierten die Wände der behaglichen Wohnzimmer, während draußen der Wind durch die dünn beblätterten Äste der Bäume wehte.

Lilly, eine junge Grafikdesignerin, war neu in der Stadt. Sie hätte sich nie vorstellen können, dass etwas Schreckliches auf sie zukommt, als sie in das alte, viktorianische Haus am Ende der Straße zog. Die Bewohner von Hillstone mieden diesen Ort wegen seiner unheimlichen Aura und der Geschichten, die mit ihm verknüpft waren.

Sie sah noch ein Licht in dem Haus brennen, obwohl sie sicher war, dass sie es ausgeschaltet hatte. Sie schloss die Haustür auf und hörte, wie der Wind das alte Haus zum Knarren brachte. Das war der Wind, den die Einheimischen den „Geisterwind“ nannten.

Die kalte Luft umgab sie, als sie den Flur hinunterging. Der Wind flüsterte durch die Ritzen und hielt ihre Aufmerksamkeit gefangen. Sie fühlte eine eisige Hand auf ihrer Schulter. Und dann hörte sie es – das flüstern des Windes, leise und doch unverkennbar. Sie hatte eine Vorstellung davon, wer dieser Geist sein könnte. Arthur – der alte Bewohner des Hauses, ein berühmter Schriftsteller, der unter mysteriösen Umständen verstorben war.

Angst durchströmte sie und in ihrem Herzen wuchs der Wunsch, das Haus zu verlassen. Doch die Neugierde und die unbeantworteten Fragen hielten sie fest. War es wirklich Arthur? Was wollte er von ihr? Sie brauchte Antworten und so entschloss sie sich, dem Geist zu begegnen.

Die nächsten Tage verbrachte Lilly mit Recherchen über Arthur und die Geschichte des Hauses. Sie entdeckte, dass Arthur ein unveröffentlichtes Buch hinterlassen hatte – ein Werk, das angeblich solch eine beängstigende Geschichte erzählte, dass es niemals das Licht der Welt erblicken sollte.

Eines Nachts, als der Geisterwind wieder durch ihr Haus wisperte, nahm Lilly all ihren Mut zusammen und trat in Arthurs altes Arbeitszimmer. Der Wind drehte sich und der Raum war plötzlich eisig kalt. Aber diesmal, anstatt Angst zu empfinden, sprach sie mutig: „Arthur, zeig mir das Buch.“

Ein kalter Luftzug traf sie und das Zimmer wurde plötzlich dunkler. Erschrocken öffnete sie die Augen und entdeckte ein Manuskript auf dem alten Schreibtisch – Arthurs unveröffentlichtes Werk. Es erzählte die Geschichte eines Mannes, der die Vergänglichkeit des Lebens überwinden wollte und die Sphäre des Übernatürlichen berührte – genau wie Arthur selbst.

Das Buch endete abrupt, aber was Lilly las, war erschütternd genug. Arthur hatte tatsächlich mit dem Übernatürlichen experimentiert und sein vorzeitiger Tod war das Ergebnis. Mit Tränen in den Augen schloss sie das Buch. Sie fühlte Arthurs Präsenz um sich herum schwinden. Die kalte hand auf ihrer Schulter war verschwunden.

Der Geisterwind flüsterte im Korridor und strich sanft über den Rücken von Lilly. Das alte Haus an der Ecke der Straße schmiegte sich wieder in die Dunkelheit. Doch diesmal hörte der Wind auf zu heulen und legte sich ruhig nieder. Die Fotografien an der Wand lachten sanft im silbernen Licht des Mondes und sie wusste, dass Arthur endlich seinen Frieden gefunden hatte.

Die Erlebnisse ließen Lilly keine Ruhe und sie schlief in dieser Nacht kaum. Am nächsten Morgen gab sie Arthurs Manuskript in die Fänge der örtlichen Bibliothek, in die Hoffnung, dass Arthur’s Geschichte irgendwann erzählt werden würde. Vielleicht wartet irgendwo da draußen noch jemand auf die Ankunft des Geisterwinds?

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