Die Dunkelheit hatte das kleine Küstendorf gänzlich umschlossen. Es war kein Schwarz, das man von einer sternenklaren Nacht kannte – es war ein undurchdringbarer, pulsierender Nebel, der jedes kleinste Licht zu schlucken schien. Weder Sonnenaufgang noch Sonnenuntergang waren in den letzten sieben Tagen zu sehen gewesen, und die Bewohner begannen, sich zu fragen, ob dies überhaupt noch geschehen würde.
Die Dorfbewohner schienen stillzustehen, als ob sie von der Dunkelheit eingefroren worden wären. Jeder Schritt, jeder Laut erschien schwer und gedämpft. Es war, als ob die Dunkelheit nicht nur das Licht schluckte, sondern auch die Geräusche, die Farben, sogar die Lebensenergie.
Ein junges Mädchen namens Luna hatte sich in diesen Tagen als besonders mutig erwiesen. Sie warf der Dunkelheit trotz ihrer Abscheu trotzig einen provokativen Blick zu und war entschlossen, dem Geheimnis auf den Grund zu gehen. Mit ihrer Taschenlampe bewaffnet, schlich sie sich nachts aus ihrem Haus und schlüpfte in das Verborgene.
Aber die Dunkelheit schien sie wie eine fleischgewordene Bestie zu belauern und ihr folgte. Mit jeder Sekunde, die Luna tiefer in die pechschwarze Nacht eintauchte, bemerkte sie, wie ihre Taschenlampe schwächer wurde, als würde die Dunkelheit sie langsam auffressen. Der tapfere Eifer, den sie anfangs gehabt hatten, begann zu schwinden.
In der Dunkelheit konnte Luna schließlich die Silhouetten riesiger, knorriger Bäume wahrnehmen, die wie dunkle Wächter im Nebel aufragten. Vor einem solchen Baum sah sie eine schwache, schimmernde Gestalt. Es war ein älterer Mann, der einen leuchtenden Kristall in der Hand hielt. „Siehst du, Luna,“ flüsterte er, „diese Dunkelheit ist kein normales Phänomen… Das ist die Dunkelheit, die in jedem von uns wohnt… Unsere Ängste. Unsere Sorgen. Unsere Verzweiflung. Du musst lernen, sie zu akzeptieren, ihr ins Gesicht zu sehen, dann wird sie verschwinden.“
Mit diesen Worten verschwand der Alte und ließ Luna allein zurück. Luna war verwirrt und verängstigt, aber auch entschlossen, der Dunkelheit in ihr zu begegnen und ihr Dorf zu retten. Mit zitternden Händen öffnete sie ihre Taschenlampe und starrte in das schwache Licht.
Die Folgetage waren hart für Luna. Sie hatte schlaflose Nächte und Angstzustände. Es war als würde sie sich in ihrer eigenen Dunkelheit verlieren. Doch mit jeder verstrichenen Nacht, mit jedem ins Gesicht gesehenen Schatten, fühlte sie sich stärker. Sie erkannte, dass die Dunkelheit keine Bestie ist, sondern ein Teil von ihr selbst, ein Teil, den sie kontrollieren konnte.
Eines Tages, nach endlos scheinenden Nächten, fing Luna die ersten Strahlen der Morgendämmerung auf ihrem Fenster ein. Überrascht und voller Hoffnung rannte sie aus dem Haus. Allmählich hellte sich die Dunkelheit auf und die Sonne begann wieder über das Dorf aufzugehen. Es war, als hätte die Sonne die Dunkelheit umarmt und jedem Häuschen, jedem Blatt und jedem Stein einen goldenen Glanz verliehen.
Die Bewohner des Dorfes waren überglücklich, wieder Licht zu sehen, und zugleich verwundert über die Veränderungen, die sich vollzogen hatten. Sie blickten sich gegenseitig an, als ob sie zum ersten Mal sahen. Denn, obwohl es schien, als wäre alles so wie früher, war doch alles anders. Neu. Hell. Es gab keine Angst mehr vor der Nacht, aber es gab auch keine ausgelassene Freude beim Anbruch des Tages. Denn nun verstanden sie: Licht und Dunkelheit, Tag und Nacht, Freude und Angst, Stärke und Schwäche – sie sind alle zusammen verwoben, unzertrennlich, Teile einer ewigen Dualität.
Und Luna, das mutige Mädchen, das ihren Ängsten gegenübertrat und lernte, sie zu akzeptieren, stand in der Mitte des Dorfes, das Gesicht zur Sonne erhoben, und lächelte. Denn sie hatte die schmerzhafte, zugleich aber auch befreiende Wahrheit erkannt: Die Dunkelheit wohnt in uns allen, und dennoch, oder gerade deshalb, scheint das Licht.