Lucas liebte es, den Wald bei Sonnenuntergang zu durchstreuen. Die Tangibilität zwischen Realität und Fantasie war etwas, das ihn magisch an seinen geliebten Wald zog. Doch heute war anders. Die Sonne kroch hinter den Wolken hervor, schickte ihre letzten orangefarbenen Strahlen durch die kahlen Äste und tauchte den Wald in ein bedrohliches Schattenmuster.
Lucas brauchte das Handylicht, um sich zu orientieren. Äste knackten unter seinen Füßen. Er hielt inne, irgendetwas zischte laut. Eine kalte Gänsehaut jagte ihm über den Rücken, er griff nach seinem Telefon, aber es war weg. Panik überkam ihn. Sein Herz hämmerte gegen seine Brust. Er hörte plötzlich flüsternde Stimmen, die, so schien es, aus dem Wald selbst kamen.
„Verloren…verloren… verdammt für immer…“, hallte es wider. Die eindringlichen Worte bohrten sich in sein Gedächtnis. „Wer ist da?“ rief Lucas. Aber anstatt einer Antwort wurde das Flüstern nur lauter und ominöser.
Lucas drehte sich auf den Fersen um und rannte. Jede Dunkelheit war nun der Feind, jeder Schatten eine Bedrohung. Sein Atem fauchte in der brutalen Kälte und sein Herz pochte schmerzhaft gegen seine Rippen. Er rannte weiter und weiter, bis er an einen Baum stieß. Er unterdrückte seinen Schmerzensschrei und humpelte weiter, gottergeben und hilflos.
Schließlich hinderte ihn eine seltsame Lichtung am Weitergehen. Mitten im Wald stand ein altes, verwittertes Holzkreuz. Das Flüstern wurde mit jedem Schritt, den er näher kam, dringlicher. Trotz der warnenden Stimmen in seinem Kopf, näherte er sich dem Kreuz. Ein umgestürzter Grabstein lag daneben, offenbar hatte die Zeit ihn zerfressen und das Moos hatte ihn erobert. Kaum lesbar, stand auf dem Stein:
“Im Namen aller, die hier verloren sind… verflucht seien jene, die diese Ruhe stören.”
Lucas zog scharf die Luft ein, seine Augen weiteten sich in entsetztem Verständnis. So wie es aussah, hatte er die Ruhe des alten Waldes gestört. Die flüsternden Stimmen waren nicht nur Produkt seiner Fantasie – sie gehörten denjenigen, die in diesem einsamen Grab ruhten.
Er wollte umkehren, rennen, verschwinden. Aber seine Füße bewegten sich nicht. Eine unsichtbare Kraft hielt ihn fest, seine Beine fühlten sich an wie Blei. Er drehte sich langsam um und blickte in das gesichtslose Nichts des Waldes. Das Flüstern wurde lauter, dringlicher, fast schmerzhaft.
Mit einem letzten, verzweifelten Aufschrei, sank Lucas in die Dunkelheit. Die flüsternden Stimmen wurden wieder leise und der alte Wald schloss sich wieder um das neueste Mitglied des unglücklichen Klubs der Verlorenen.
Sie sagen, wenn man den Wald bei Sonnenuntergang durchstreift und genau hinhört, kann man immer noch das ängstliche Schluchzen eines Jungen hören, der seine Ruhe stört.