jeden Tag eine Geschichte
Rastlose Schatten

Rastlose Schatten

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Es war ein typischer Freitagabend. Ben saß in seinem gemütlichen Zimmer und vertiefte sich in das grelle Licht seines Smartphones. Die intensiven Chats mit seinen Freunden und die endlosen Videos auf Social Media raubten ihm die Zeit. Seine Eltern waren schon im Bett, eingekuschelt in ihren Schlafzimmern auf der anderen Seite des Hauses.

Die Stille des Abends wurde unterbrochen von einem dunklen Schatten, der an seinem Fenster vorbeihuschte. Ben blickte auf und starrte auf den leeren Raum außerhalb seines Fensters. Sein erster Gedanke war, dass es wahrscheinlich ein Vogel war, der seine Flugbahn verloren hatte. Er zuckte mit den Schultern und kehrte zu seinem Smartphone zurück.

Einige Minuten später hetzte der dunkle Schatten wieder an seinem Fenster vorbei. Dieses Mal war es viel näher und viel größer als zuvor. Ben’s Herz schlug schneller und er fühlte seine Kehle trocken. Das war kein Vogel. Zu groß und zu schnell.

Er stand auf und ging zum Fenster, versuchte hinauszusehen. Der Schatten huschte von einer Ecke des Gartens zur anderen, so schnell, dass es unmöglich war, zu erkennen, was es war. Unbehagen durchflutete ihn.

Plötzlich hörte Ben ein zähes Kratzen an der Haustür. Erst leise und zögerlich, dann immer schneller, lauter und aggressiver. Angst durchflutete ihn und ließ seinen Körper erzittern. Er verließ sein Zimmer und tastete sich durch die Dunkelheit des Flures, um die Haustür zu erreichen.

An der Tür angekommen, stand er erstarrt. Das Kratzen war jetzt so laut, dass es durch das ganze Haus hallte. Er konnte das unregelmäßige Schaben fühlen, das unter seinen Fusssohlen vibrierte. Er streckte eine zitternde Hand aus und berührte die kalte Türklinke.

Die Stille, die eintrat, war fast noch schlimmer als das Kratzen. Die Dunkelheit um ihn herum schien plötzlich noch schwärzer. Und dann hörte er das Flüstern. Verzerrt, unheimlich, klang es, als würde es sowohl von weit weg als auch aus nächster Nähe kommen.

„Gib uns die Dunkelheit zurück,“ flüsterte es und hallte zwischen den Wänden wider. Das Flüstern wurde lauter, eindringlicher. „Gib uns die Dunkelheit zurück“.

In Panik rannte Ben zurück zu seinem Zimmer, schloss die Tür hinter sich ab und kroch unter seine Bettdecke. Aber die Worte verfolgten ihn, bohrten sich in seine Ohren, sein Gehirn, sein innerstes Wesen. Und mit absoluter Klarheit erkannte er, was das Wesen von ihm verlangte.

Er nahm sein Handy und schaltete es aus. Die Dunkelheit schluckte sein Zimmer und sofort schienen die Schatten ruhig zu werden. Das Kratzen an der Haustür stoppte und ein tiefes Gefühl von Frieden breitete sich im Haus aus.

Ben lag noch lange wach, das Handy in seiner Hand und unkalkulierbare Gedanken in seinem Kopf. Die rastlosen Schatten forderten die Dunkelheit zurück, die er in Form von Licht und Lärm entwendet hatte. Ein Gedanke schlich sich unaufhaltsam in seinen Kopf: Wie viele Schatten mussten schon rastlos umherwandeln und die Dunkelheit zurückverlangen, nur weil Menschen wie er zu viel Licht in die Nacht brachten?

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