jeden Tag eine Geschichte
Eisige Schatten

Eisige Schatten

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Ein heftiger, beißender Wind wehte durch das winzige Dorf. Die einzigen Lichter waren die bläulichen Strahlen, die durch die zugefrorenen Fenster von isolierten Häusern leuchteten. Jeder wusste, dass die Kälte viel mehr als nur ein Wetterphänomen in diesem Dorf war. Sie trugen die eisigen Schatten mit sich, Gestalten, die nur aus dem Augenwinkel sichtbar waren.

Die Bewohner akzeptierten das als Teil ihres Lebens. Sie hatten gelernt, die eisigen Schatten zu fürchten, sie zu respektieren und vor allem, sie nicht zu stören. Aber zuallererst, sie zu leugnen. Niemand sprach jemals über sie. Schon dieser einfachen Erwähnung wurde mit Skepsis und leisem Tadel begegnet. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, eins, das dem Wohlbefinden aller diente.
Aber dann zog Leo ins Dorf – voller Hohn, Argwohn und jugendlichem Übermut.

Leo war ein Stadtkind, aufgewachsen in der Anonymität des städtischen Dschungels, vertraut mit Beton und Neonlichtern. Die Konzepte der eisigen Schatten waren ihm fremd, sie klangen lächerlich, kryptisch – zu sehr Schauermärchen, um wahr zu sein.

Leo lächelte immer, wenn ein Dorfbewohner den Blick nervös von den dunkelsten Ecken wegwandte oder die leiseste Bewegung in der kalten Brise kommentierte. Er lachte bei jeder gescheiterten Erklärung, jeder Andeutung, die in der Luft hing.

Das Dorf sah sein Verhängnis in Leos Lachen. Sie wussten, dass Leos Arroganz ihn dazu bringen würde, die eisigen Schatten zu provozieren … und sie hatten recht. Eines eiskalten Winterabends entschied Leo, dass es Zeit sei, dieses Geheimnis zu entwirren. In einer Nacht, so kalt, dass sie sich wie der eisige Hauch des Todes anfühlte, trat Leo hinaus in die Dunkelheit.

Die Dorfbewohner sahen ihn gehen und schlossen ihre schweren Holztüren, schworen leise Gebete für ihn und für sich. Sie wussten, dass sie den grausamen eisigen Schatten nichts entgegenzusetzen hatten.

Einen Tag und eine gefrorene Nacht später fand man Leo. Er war mitten auf dem Dorfplatz, eingeschneit, die Augen weit auf und ein gequälter Ausdruck auf dem Gesicht. Seine Lippen waren blau vor Kälte, seine Haut so kalt wie Eis. Er war tot.

Die Dorfbewohner verehrten die Schatten an diesem Tag noch mehr, flüsterten noch stiller über sie. Leo war eine Warnung für alle, eine furchtbare Erinnerung an die eisige Macht, die das Dorf umgab. Niemand würde je wieder lachen. Niemand würde je wieder die Schatten herausfordern.

Das Geheimnis der eisigen Schatten blieb ungelöst, ihre eisige Präsenz war ein unausgesprochenes Gespenst, das über dem Dorf hing. Und doch, in der Stille der kalten Winternächte, wenn die Schatten am stärksten waren, konnte man manchmal das schwache Echo eines Lachens hören – ein kühles, eisiges Lachen, das in den Wind hinein starb.

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