jeden Tag eine Geschichte
Das Erwachen der Gargoyles

Das Erwachen der Gargoyles

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Die Stadt bedeckte sich ein letztes Mal mit dem sanften Glanz der untergehenden Sonne, bevor sie dem harten Griff der Dunkelheit nachgab. Zentral gelegen auf einem Hügel, stand die alte und ehrwürdige Kathedrale, deren steinerne Beschützer – Gargoyles – wie immer ihre eisigen Blicke auf die schlafende Stadt richteten.

Aber heute Abend war was anders. Die kalten Winde wehten stärker als gewohnt und die uralten Strukturen der Kathedrale ächzten mehr, als wenn sie von einem unsichtbaren Leid gequält würden. In der mitternächtlichen Stille erklang ein dumpfes, fast unmerkliches Knirschen, wie Stein, der gegen Stein scheuerte. Einer nach dem anderen kam zum Leben, die eindrucksvollen steinernen Wächter der Stadt – die Gargoyles.

Verschiedene Formen hatten sie – manche grotesk, manche bedrohlich, manche beinahe menschlich. Sie erhoben sich plötzlich, ihre steinernen Flügel knackten und steife Körper entspannten sich. Ihre Augen glühten im Dunkeln, als ob verborgene Feuer in ihnen entzündet worden wären.

Den Bewohnern der Stadt war ihre veränderte Wache zunächst unbekannt, bis ein junges Mädchen, Alice, auf dem Weg zum Bäcker die ersten Anzeichen erkannte. Ihr Spielzeug war auf die Mauer gefallen, und als sie es aufhob, schien es ihr, als ob die Gargoyles nicht mehr dort waren, wo sie sein sollten.

Mit ihren Augen weit aufgerissen rannte sie nach Hause und erzählte ihrer Mutter, was passiert war. Ihre Mutter lächelte nur und strich ihr über die Wange, „Arme Alice“, sagte sie, „du hast wahrscheinlich zu viele schreckliche Geschichten gehört“. Aber Alice war sich sicher – die Steingestalten hatten sich bewegt.

In der darauffolgenden Nacht war es noch schlimmer. Bewohner berichteten von Schatten, die über ihre Fenster flogen und unheimlichen Rufen, die die nächtliche Stille unterbrachen. Trotz der Panik gab es immer noch viele, die das Phänomen verleugneten und es auf kollektive Halluzinationen schoben. Aber dann änderte sich alles, als am nächsten Morgen die ersten Opfer entdeckt wurden.

Es waren keine körperlichen Verletzungen an ihnen. Sie schienen einfach verschwunden zu sein, nur ihre leeren Körper übriggelassen. Ihre Augäpfel waren ausgebrannt, schwarz wie die Nacht. Ohne erkennbare Spuren befürchtete die Stadt ihre steinernen Wächter.

In ihrer Verzweiflung wandten sie sich an die Kirche, um Erlösung zu suchen. Der alte Priester, der die Kathedrale verwaltete, ein Mann des tiefen Wissens und der Mystik, offenbarte dann das unvorstellbare Geheimnis. Die Gargoyles waren nicht nur einfache Steinfiguren, sie waren mystische Wesen, gefangen im Stein und angewiesen, die Stadt zu bewachen. Jahrhunderte der Vernachlässigung und des Mangels an Ehrfurcht hatten sie jedoch verärgert, und nun nahmen sie Rache.

Trotz des Terrors wurden keine Anstrengungen unternommen, die Stadt zu evakuieren, denn sie wussten, dass man nicht vor dem Zorn der Gargoyles fliehen konnte. Stattdessen, lebten sie jeden Tag, als wäre es ihr letzter, in ständiger Angst vor der nächsten einbrechenden Dunkelheit und den Blicken ihrer steinernen Wächter.

Und so existiert die Stadt noch heute, zwischen den Klauen ihrer ehemaligen Beschützer gefangen. Eine ewige Mahnung daran, dass man Respekt und Ehrfurcht vor den alten Mächten haben muss, die einmal die Welt beherrschten. Und wer weiß? Vielleicht warten die Gargoyles nur darauf, ihre Wut auf die nächste unvorsichtige Stadt zu entladen.

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