jeden Tag eine Geschichte
Geflüster im Wind

Geflüster im Wind

1345

Es war ein kalter Spätherbstabend. David spürte, wie der Wind durch die Ritzen seiner billigen Studentenwohnung pfiff. Die Straßenlaternen warfen Schattenmonster an die Wände und er versuchte sich auf seine Hausarbeit zu konzentrieren. Doch ein leises Flüstern, das scheinbar vom Wind getragen wurde, zog seine Aufmerksamkeit vom Bildschirm ab.

Das Flüstern war kaum zu verstehen, doch es war definitiv da – ein sanftes Wispern, das hin und wieder durch die windigen Böen zu ihm hinübergetragen wurde. David schüttelte den Kopf und versuchte sich davon nicht beeindrucken zu lassen, doch das Flüstern wurde lauter und drängender.

Er stand auf und trat ans Fenster, seine Augen suchten die dunkle Straße ab. Nichts Ungewöhnliches. Kein Mensch oder Tier, das solche Geräusche hätte erzeugen können. Aber er hörte es doch, so klar und unverkennbar, immer noch das Flüstern im Wind… Seine Augen wurden schwer und er schüttelte sich, als ob er einen Alptraum abschütteln wollte, aber das Geräusch blieb.

Irgendetwas in ihm zog ihn hinaus in die Dunkelheit. Er folgte dem Geräusch, welches leiser zu werden schien, je weiter er von seinem Wohnblock entfernt kam. Aber David ließ sich nicht verwirren. Er ging weiter, die schummrige Straßenbeleuchtung sein einziger Begleiter.

Der Wind streifte durch die Bäume, und das Wispern wurde lauter, klarer. Er folgte dem Klang bis zu einem kleinen, abgelegenen Park, der mitten im Wohnviertel verborgen war. In dessen Mitte war ein alter, knorriger Baum, der schon viele Jahre gesehen hatte. Und von dort kam das Wispern.

Er näherte sich dem Baum vorsichtig, das Flüstern wurde immer deutlicher – eine Mischung aus alten Wörtern und Wracksaßen, die er kaum zu verstehen vermochte. Angst kroch in ihm hoch. Der Wind wisperte uneindeutige Sätze, dann Namen, schließlich seiner…

„David,“ flüsterte der Wind mit gefährlicher Sanftheit. Voller Schrecken starrte er den Baum mit seinen nackten Ästen an. „David,“ wiederholte der Wind, und in diesem Moment schienen die Äste des Baumes sich zu bewegen, zu winden, nach ihm zu greifen mit knochigen Fingern.

Er wollte weglaufen, aber seine Beine gaben nicht nach. Er starrte den Baum an, als ob er in einem bösen Traum gefangen wäre und nicht aufwachen könnte. Dann wiederholte der Wind seinen Namen, diesmal lauter, härter, ungeduldiger. David schrie verzweifelt auf, aber der Wind erstickte seinen Schrei.

Als die Sonne aufging, war der Park still und leer. Die Blätter raschelten sanft im morgendlichen Wind und von David fehlte jede Spur. Nur der alte Baum stand noch da, stumm und einsam. Einige Leute behaupten, sie könnten immer noch ein Flüstern hören, wenn sie in der Nähe vorbeigehen. Das Geflüster im Wind, das nie seinen Namen ruft, sondern immer wieder den eines jungen Mannes…

„David… David… David…“

Facebook
X
LinkedIn
Facebook
WhatsApp