jeden Tag eine Geschichte
Geheimnisse des Frostes

Geheimnisse des Frostes

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Der Winter war in gewöhnlichen Jahren schon hart in der kleinen Stadt am Fuße des verschneiten Berges. Doch in diesem Jahr, war etwas anders. Der Frost fühlte sich lebendig an, als ob er Flüstern, Lachen und Weinen würde. Die Einwohner sprachen von seltsamen Erscheinungen und dem Gefühl ständiger Beobachtung.

Anfangs wurden diese Berichte nur belächelt. Doch als die ersten Menschen spurlos verschwanden, begann die Angst um sich zu greifen. Der Schuldige war schnell gefunden – Frosty, die Eisskulptur, die jedes Jahr auf dem Dorfplatz errichtet wurde. Immer, wenn jemand verschwand, fand man neue, feine Details an Frosty. Eine zusätzliche Eiszapfen-Locke, ein kleiner Riss, der wie eine Träne aussah, oder plötzlich ein zweites Paar Augen, das jemandem in der Stadt auffallend ähnlich sah.

Naomi, eine mutige Schulreporterin, beschloss, die Wahrheit aufzudecken. Sie stellte eine Nachtwache um Frosty auf. Mit ihrer Kamera und ihrer Taschenlampe bewaffnet, wartete sie im Dunkeln. Als sie kurz davor war, die Hoffnung aufzugeben und ins Warme zu gehen, setzte ein heftiges Schneetreiben ein. Eisig kalter Wind fegte über den Platz und durch die leeren Straßen.

Durch den Schneesturm hindurch konnte sie sehen, wie Frosty sich bewegte. Erschrocken drückte sie auf den Auslöser ihrer Kamera und fing das Ereignis ein. Die Eisskulptur bewegte sich! Sie atmete, weinte und lachte, genau wie die Leute es berichtet hatten. Dann streckte Frosty seine eisigen Arme aus und griff nach einem Mann, der gerade den Platz überquerte.

Naomi schrie und rannte auf Frosty zu, doch sie konnte nur zusehen, wie der Mann in einem Strudel aus Schnee und Eis verschwand. Als der Sturm sich schließlich legte, stand sie alleine auf dem Dorfplatz. Frosty war wieder unbewegt, mit einem pausbäckigen Lächeln und strahlenden Augen – den Augen des verschwundenen Mannes.

Angetrieben von einem Mix aus Verzweiflung und Mut druckte sie die Fotos aus und zeigte sie den Einwohnern. Sie erwartete Panik, doch stattdessen breitete sich eine merkwürdige Stille aus. Die Menschen schienen zu acceptieren, was geschehen war. Die Winter, so sagten sie, gehörten Frosty, und er würde tun, was er tun musste, um zu überleben. Es war Teil ihres Lebens, ein überliefertes Geheimnis, das nun aufgedeckt worden war.

Doch Naomi konnte das nicht akzeptieren. Sie kehrte zum Dorfplatz zurück und starrte Frosty in seine eisigen Augen. Sie flüsterte ihm zu, dass sie ihm nicht erlauben würde, weiterhin Unschuldige zu nehmen. Frosty antwortete nicht, doch in seinen Augen schien ein neues Feuer zu brennen.

Noemi ging nach Hause und wartete auf die nächste Nacht. Was würde Frosty tun? Würde er wieder eine Seele nehmen? Und wenn ja – wäre es ihre?

Die finstere Vorahnung verließ Noemi nicht. Jede Nacht, wenn der Frost quietschte und knarzte, stellte sie sich vor, wie sich Frosty bewegte. Sie konnte es fühlen, der Winter hatte noch lange nicht sein letztes Geheimnis preisgegeben…

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