jeden Tag eine Geschichte
Der Schatten im Spiegel

Der Schatten im Spiegel

3

Lena saß auf ihrem Bett und starrte auf ihren Schminktisch. Vor wenigen Tagen hatte sie einen alten, antiken Spiegel gekauft, den sie in einem Trödelladen entdeckt hatte. Der geschwungene Goldrahmen hatte sie sofort angezogen. Doch seitdem sie ihn aufgestellt hatte, bekam sie ein seltsames Gefühl, immer wenn sie ihr Spiegelbild darin sah.

Es waren kaum wahrnehmbare Veränderungen. Ein kurzes Zucken in ihren Augen, bevor sie blinzelte. Oder ihr Lächeln, das auf dem Spiegelbild eine Sekunde länger anhielt als es sollte. Als Psychologiestudentin versuchte sie das mit leichter Paranoia aufgrund von Schlafmangel zu erklären. Doch heute Nacht war es schlimmer geworden.

Verängstigt beobachtete sie ihr Spiegelbild, das starr zurückblickte. Ihre Augen ruhten auf ihrem eigenen Mund – sie hatte nicht gesprochen, doch sie beobachtete wie ihre Lippen in dem Spiegel die Worte formten: „Es tut mir leid“. Ihr Atem stockte. Sie konnte nicht aufhören, auf das Spiegelbild zu starren, in Angst vor dem, was sie als nächstes sehen würde.

Das Spiegelbild rührte sich. Sie stand auf und Lena konnte sich nicht bewegen, obwohl sie es versuchte. In der staubigen schimmernden Oberfläche des Spiegels war ihre Spiegelversion einen Schritt zurückgetreten, bevor sie die Arme ausbreitete. Ein langer, dunkler Schatten stieg aus ihrem Spiegelbild hervor und nahm menschliche Formen an. Es sah aus wie sie – ein Spiegelbild im Spiegel.

„Wer bist du?” Die Worte kamen heraus, obwohl sie sie nicht absichtlich ausgesprochen hatte. Lena war sich nicht sicher, ob es ihre eigene Stimme war oder die ihres Spiegelbilds.

Das Spiegelbild antwortete: „Ich bin das, was du im Dunkeln hinter dir siehst, was du in der Stille hörst und die Dinge, die du im Schlaf flüsterst. Ich bin die Verkörperung deiner Ängste.“ Lena fühlte, wie sich Kaltschweiß auf ihrer Stirn bildete. Ihr Hals fühlte sich wie Sandpapier an. „Warum bist du hier?“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

„Seit du den Spiegel gekauft hast, habe ich dir ständig zugehört. Deine Ängste, sie haben mich genährt, mich manifestiert. Aber jetzt reicht es aus, dich zu quälen. Es ist an der Zeit, dich zu befreien.“ Mit diesen Worten streckte das Spiegelbild die Hand aus und berührte den Spiegel. Die Oberfläche begann zu wackeln und zu fließen wie Wasser. Ihr Spiegelbild ging einen Schritt zurück und der dunkle Schatten trat vor, die Hand immer noch auf der Spiegelfläche.

Lena fühlte, wie sich ihr Magen umdrehte. Sie konnte nicht glauben, was sie sah, hatte Angst vor dem, was passieren könnte. Was sollte sie tun? Sie starrte auf den Schatten, der sie anlächelte – ein Lächeln, das ihrem eigenen sehr ähnlich war.

„Ich habe keine Wahl“, hauchte Lena, die Worte flüchteten aus ihrem Mund, bevor ihr Verstand sie stoppen konnte. Der Schatten nickte und trat aus dem Spiegel heraus in den Raum. Die Welt begann zu schwanken und Lena fühlte sich plötzlich sehr müde. Bevor alles schwarz wurde, hörte sie den Schatten sagen: „Wir sind jetzt frei.“

Als sie aufwachte, war es mitten in der Nacht und der Spiegel war leer. Sie fühlte sich leicht, fast als ob eine große Last von ihr genommen worden wäre. Als sie in den Spiegel sah, sah sie nur sich selbst. Aber war es immer noch sie? Oder war es der Schatten im Spiegel?

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