Es war ein gewöhnlicher Donnerstagmorgen, als Daniel erneut die Stimme hörte. Bislang waren die Worte in seinem Kopf nur undeutliches Wispern gewesen, aber jetzt war die Stimme klarer, bestimmter: „Die dritte Schublade, Daniel.“
Daniel stand in seinem Wohnzimmer, in der Hand den kalten Kaffee vom Frühstück. Er wusste nicht, was ihn mehr irritierte – die Tatsache, dass die Stimme seinen Namen kannte, oder dass sie ihn anwies, die dritte Schublade zu öffnen. Die Schublade, die er seit dem Tod seiner Großmutter nicht mehr angerührt hatte.
Er ging zum alten Eichenschrank, öffnete zögerlich die Schublade und entdeckte eine alte Karte. Angespornt durch die Stimme, studierte er die Karte und deutete sie schließlich als Weg zu einem Haus im Wald außerhalb der Stadt.
Daniel war verängstigt, aber getrieben von einer unerklärlichen Neugier. So spazierte er durch den Wald, die Stimme in seinem Kopf als ständiger Begleiter. Bald stand er vor dem Haus, einem alten unheimlichen Viktoria-Ära Gebäude, das durch und durch von Boshaftigkeit zu wimmeln schien.
Er drückte die klapprige Tür auf und betrat das Gebäude. Er fühlte, wie der Staub der Jahrzehnte sich um ihn schmiegte, wie das Haus begann zu leben. Er folgte der Stimme in ein Zimmer, an dessen Wand ein altes Schwarz-Weiß-Foto hing. Auf dem Bild erkannte Daniel seine Großmutter. Junger als je zuvor, in den Armen eines fremden Mannes. Das Bild war datiert auf 1963 – zwölf Jahre vor seiner Geburt.
Der Fremde im Bild, Daniel hatte es geahnt, war der gleiche, dessen Stimme ihn hierher geführt hatte. Da ihm nichts Anderes einfiel, sprach er in das Zimmer hinein „Wer bist du?“
Die Stimme antwortete sofort: „Ich bin Edgar. Ich habe deine Großmutter geliebt. Aber ich bin zu früh gestorben und konnte ihr nicht sagen, dass ich der Vater ihres Kindes war, deines Vaters. Sie war schwanger, als ich starb. Niemand wusste es.“
Die Wahrheit, die sich Daniel gerade erst bewusst geworden war, stand unausweichlich vor ihm: Er hatte die aufkommende Geisterwelt betreten und mit seinem verstorbenen Großvater kommuniziert. In diesem Augenblick annullierte sich sein bisheriger Glaube an das Natürliche, das Greifbare, das Sichtbare.
Daniel verließ das Haus, zutiefst erschüttert und doch irgendwie erleuchtet. Als er am nächsten Morgen aufwachte, war die Stimme fort. Aber die Erinnerung daran, das Wispern der Vergangenheit, würde ihn nie wieder loslassen.
Sie war ein Zeuge der Enthüllung von Geheimnissen, die über die Schwelle zwischen Leben und Tod hinausgingen. Wer würde es glauben, wenn er es erzählen würde? Aber das war jetzt egal. Die Worte von Edgar hatten ihn nicht nur mit der Vergangenheit seiner Familie verbunden, sondern auch mit der unheimlichen, mysteriösen Welt, die jenseits unserer alltäglichen Realität existiert.