jeden Tag eine Geschichte
Wispernde Dämmerung

Wispernde Dämmerung

3

Die Schlummerstadt, wie sie liebevoll genannt wurde, war ein ruhiges Örtchen, in das sich Menschen zurückzogen, um die Hektik des Stadtlebens hinter sich zu lassen. Sie war auf ihre eigene, idyllische Weise zeitlos, mit Straßen, die sich wie Rillen durch weite Felder schlängelten, und malerischen Häusern, die von akribisch gepflegten Gärten umgeben waren.

Mason, ein junger Schriftsteller, der die Ruhe suchte, zog dort ein. Doch er war nicht auf die Eigentümlichkeit der Stadt vorbereitet. Die Einwohner verwiesen beharrlich darauf, dass die Dämmerung eine Zeit des Schweigens sei. Keine laute Musik, keine lauten Arbeiten und keine lauten Stimmen wurden geduldet. Die Regel erschien Mason verstörend, doch er beachtete sie kaum.

Erst am vierten Abend, als er wie gewohnt an seinem Schreibtisch saß und die Forgotenheit des Laptops durchbrach, hörte er das Wispern. Es war kaum vernehmbar, ein leises Geraune, das aus der Ferne zu kommen schien. Er schob es auf den Wind, denn in der Abgeschiedenheit eines solchen Ortes musste dieser doch seltsame Geräusche hervorbringen.

Die folgenden Tage waren ähnlich. In der Dämmerung, wenn das Licht seine Macht an die hereinbrechende Nacht abgab und der Himmel sich in einen unbestimmten Grauton hüllte, hörte er das Wispern wieder. Es fühlte sich an, als ob es ihn rufen würde, als ob es seine Aufmerksamkeit erregen wollte.

Beunruhigt sprach Mason beim lokalen Wirt an, doch der reagierte ausweichend. „Die Dämmerung hat ihre eigene Sprache, Junge, lass sie sprechen“, antwortete er nur mit einem geheimnisvollen Lächeln.

Das Schwelen seiner Neugier wandelte sich zu Furcht, als die Stimmen deutlicher wurden. Sie sprachen von dunklen Geheimnissen, gestohlener Zeit und gebrochenen Versprechen. Sie flüsterten Namen, die er nicht kannte, erzählten Geschichten, die er nicht verstand. Doch was ihn am meisten Unbehagen bereitete, war das ständige wiederkehrende Flüstern seines eigenen Namens. „Mason“ – es klang wie ein Seufzen, wie eine Warnung, wie ein Flehen.

Eines Abends, als die Dämmerung einbrach, konnte er den ständigen Aufrufen nicht länger widerstehen. Er packte eine Taschenlampe und verließ sein Haus. Das Wispern schien von einer untergegangenen Sonne gespeisten Dunkelheit zu kommen. Er folgte ihm, bis er an einem steinigen Pfad zu einem alten, vergessenen Teil des Friedhofs von Schlummerstadt stand.

Die vergilbten Grabsteine, wie schiefe Zähne aus der Erde ragten, inmitten einer stummen Ebene, waren fast vollkommen gefroren in der Zeit. Es war hier am stärksten – das Wispern, es war fast ohrenbetäubend. Er näherte sich einem unscheinbaren Grab, das abseits lag. Die zusammengekauerte Gestalt eines steinernen Engels wachte darüber. Auf dem Grabstein stand lediglich ein Name: Mason Miller.

Das Wispern erreichte seinen Höhepunkt und verstummte dann abrupt. Die Dunkelheit schien ihm den Atem zu stehlen, als er seinen eigenen Namen auf dem Stein vor sich las. Panik ergriff ihn und er rannte. Er rannte, bis die Stille der Nacht ihn willkommen hieß und das Wispern der Dämmerung nur eine ferne Erinnerung war.

Seit jenem Tag sind die Abende in Masons Haus still. Nein, eigentlich ist das ganze Haus still, denn Mason ist nirgends zu finden. Aber man sagt, wenn die Zeit zum Sonnenuntergang kriecht und die Dämmerung ihren Mantel ausbreitet, kann man ein neues Wispern in der Windstille hören. Ein Flüstern, das leise über Schlummerstadt zieht und den Namen „Mason“ in der Luft hängen lässt.

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