jeden Tag eine Geschichte
Der Turm der verlorenen Schreie

Der Turm der verlorenen Schreie

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Lena zog im dunklen Gewölbe ihres neuen Apartments die Vorhänge zur Seite und starrte auf den verwunschenen Turm in der Nähe. Der Turm, dafür bekannt, dass dort in der Nacht laute, unnatürliche Schreie zu hören seien, war eigentlich der Hauptgrund, warum viele Menschen aus der Nachbarschaft wegzogen. Sie hingegen empfand das als sehr spannend.

Die ersten paar Nächte waren überraschenderweise ganz still. Doch an der vierten Nacht hörte sie es – ein ohrenbetäubendes, krächzendes Schreien. Entsetzt sprang Lena aus ihrem Bett und starrte aus dem Fenster. Dort leuchtete der Turm, schwach und gespenstisch.

Am nächsten Tag erkundigte sie sich bei den Nachbarn, die sie nur mitleidig anschauten. „Oh, du hast es also gehört? Jeder, der in den Turm geht, kommt nicht mehr zurück. Die Schreie, das sind die Seelen der Verlorenen. Sie suchen einen Ausweg aus dem Turm, aber sie finden keinen,“ sagte eine alte Dame, als Lena ihr Kaffee zubereitete.

Erschrocken, aber neugierig zugleich, entschied Lena, dem Geheimnis auf die Spur zu gehen. Am Tag kam sie beim eingestürzten Eingang an und musste durch eine enge Betonschlucht kriechen, um ins Innere zu gelangen. Dort angekommen, fand sie leere, staubbedeckte Korridore und unheimlich kahle Räume vor.

Während sie durch den Turm schlich, dauerte es nicht lange, bis Lena eine unerwartete Entdeckung machte. Ein alter, staubiger Computer, der in einem der Räume versteckt war, war noch immer betriebsbereit. Nachdem sie den Staub abgewischt hatte, sah sie, dass ein Programm geöffnet war. Es zeigte eine Liste von Namen – all denen, die jemals versucht hatten, den Turm zu erkunden.

Verwundert stellte sie fest, dass die Liste auf dem Bildschirm nicht endete, sondern immer weiter nach unten reichte. Jeder neue Name, der auftauchte, wurde von einem schrillen Schrei begleitet, als ob die Seele dieses Unglücklichen in die Dunkelheit des Turmes gezogen worden wäre.

Sie schaute genauer hin und ihr Blut gefror in den Adern, als sie ihren eigenen Namen dort sah, Hervorgehoben und blinkend. Vor Schreck fiel ihr das Notebook aus der Hand. Sie war starr vor Angst, konnte keinen klaren Gedanken fassen und fasste den einzigen Entschluss, der ihr in den Sinn kam: Sie musste sofort hier raus.

Aber es war zu spät. Sie konnte schon fühlen, wie eine eisige Hand nach ihrer Schulter griff. Voller Panik begann sie loszurennen, doch sie kam nicht weit. Ein lautes, markerschütterndes Schrei hallte durch den Turm und dann … Stille.

Am nächsten Tag sahen die Nachbarn das Fenster ihrer Wohnung leer und verlassen. Man munkelte, Lena sei nur die nächste gewesen, deren Schrei den Turm erfüllte. Und wenn man genau hinhörte, konnte man eine neue Stimme unterscheiden, zwischen den anderen – die eines jungen Mädchens, das nie zurückkam.

Der Computer im Turm summte leise vor sich hin, und eine neue Zeile erschien auf dem Bildschirm. Ein weiterer Name in der Liste der Verlorenen – Lena. Und der Turm der verlorenen Schreie bekam eine weitere Seele zu seiner Sammlung dazu.

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