Als Londoner Architekturfotograf, immer auf der Suche nach den versteckten Wundern der Stadt, fand ich den verbotenen Zugang zu einer unentdeckten U-Bahn-Station ganz aufregend. Die Einstiegsfalle war von Moos überwachsen, von Ziegelsteinen verborgen, fast unsichtbar. Trotz der Hinweisschilder – „Betreten verboten: Instabile Strukturen“ – konnte ich es kaum erwarten, tief in die unbeleuchteten Tunnel einzudringen.
Meine Kamera um den Hals, eine Taschenlampe fest in der Hand, nahm ich meinen ersten Schritt in die Dunkelheit. Die Schwärze erlaubte keine Schattierungen, sie war fast greifbar, beunruhigend ruhig. Jedes Mal, wenn ein Tropfen Wasser aus der Gewölbekuppel fiel, hallte es wie ein lauter Paukenschlag nach. Tiefe Seufzer, ich vermutete von der alten Struktur, kräuselten meinen Nacken. Die feuchten Wände schwitzten eine kalte, verfaulende Luft aus. Angst machte sich breit, aber mein Ehrgeiz ließ mich weitergehen.
Nach einhundert Yards nahm der Tunnel eine scharfe Kurve. Ich folgte ihm, den seltsamen Zickzackmuster meiner Schatten auf den Wänden zu beobachten, weil ich scherzhaft herumhoppste. Bei jedem Drehen der Lampe wurde mein Schatten zu einer bedrohlichen, schwarzen Silhouette – eine gespenstische Anspielung auf mich selbst. Jetzt war auch der einzige Lichtschein von der Eingangsfalle verschwunden.
Weiter unten im Tunnel erreichte ich eine bifurkative Kreuzung. Zwei Wege, die nach links und rechts führten. In beiden Tunneln blieb die Dunkelheit unangetastet, sie schluckte das Licht meiner Taschenlampe. Die Rechte war nahezu geradlinig, die Linke jedoch hatte einen geknickten Schwung. Eine unerklärliche Angst trieb mich dazu, den rechten Tunnel zu wählen.
Nach einer kleinen Weile entdeckte ich Graffitis an den Wänden, sie schienen ungewöhnlich alt und merkwürdig an diesem Ort zu sein. Trotz der Dunkelheit zeigten verschiedene Farben chaotische Muster auf. Unter ihnen befand sich ein Graffiti, das aus der Masse herausstach. Es war das Bild eines weinenden Mädchens mit dem finsteren Text darüber: „Ich sehe dich nicht, aber du kannst mich sehen“. Mir wurde kalt.
Ein Rauschen kam plötzlich hinter mir her. Ich wirbelte herum, aber da war nichts, bis auf den kahlen, dunklen Tunnel. Abgeneigt, ging ich wieder zurück und erreichte die Bifurkation. Dieses Mal nahm ich den linken Tunnel, da ich das Graffiti im rechten nicht erneut sehen wollte.
Als ich weiter ging, wurde ich mir plötzlich der Schritte bewusst, die hinter mir kamen. Ein gelegentliches Knirschen von Kies. Leise flüsternde Echos meines eigenen Atems. Vielleicht war ich es selbst, oder vielleicht doch nicht. Ich begann schneller zu gehen. Die Schritte folgten mir, sie kamen näher. Und dann wurde mir klar.
Ich drehte mich abrupt um und richtete meine Lampe auf meinen Verfolger, nur um meinen eigenen Schatten zu sehen. Aber etwas stimmte nicht. Denn der Schatten, mein Schatten, hob langsam eine Hand und winkte bei mir. Ich war gelähmt vor Schreck.
Als ich nach Luft schnappte und zurückrannte, wurde das Graffiti lebendig. Das Mädchen öffnete ihre Augen, sah mich direkt an und weinte Tränen aus Blut. Der Text änderte sich zu: „Nun siehst du mich“.
Ich stolperte aus dem Eingang und der zurückfallende Deckel verschloss die Dunkelheit hinter mir. Die friedliche Londoner Skyline stand im Kontrast zu der Schreckenstour, die ich gerade erlebt hatte. Die Nachrichten berichteten am nächsten Tag von einem Mann, der sich im U-Bahn-Tunnel verlaufen hatte. Sie sagten, es hätte keine Graffitis gegeben. Keine bifurkative Kreuzung. Nur ein gerader, leerer Tunnel.
Bei jedem Schatten, den ich sehe, frage ich mich jetzt. Bin ich es? Oder ist es mein spiegelbildner Verfolger? Ich habe gelernt, vorsichtig zu sein mit dunklen Pfaden. Sie könnten auf viel dunklere Weisen zurückkehren…