jeden Tag eine Geschichte
Blutmondnacht

Blutmondnacht

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Ein Geräusch ließ Morgan aus dem Schlaf hochschrecken. Ein hartes Klopfen an der Fensterscheibe. Sie blinzelte in die Dunkelheit ihres Zimmers und versuchte, ihre Umgebung anhand der Konturen zu erkennen. Wieder das Klopfen. Ein flaues Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus. Das Fenster lag in der zweiten Etage. Wer oder was war in der Lage, in dieser Höhe anzuklopfen?

Morgan schwang ihre Beine über die Bettkante und tastete auf dem Nachttisch nach ihrem Handy. Die Displaybeleuchtung vertrieb die Dunkelheit und in den blauen Schimmer hinein huschte ein langer Schatten nervös hin und her. Das Fenster. Zögernd stand sie auf und näherte sich dem rätselhaften Klopfer. Ein Insekt wohl. Vielleicht ein verirrtes Eichhörnchen?

Mit einem zaghaften Klick ließ sie den Jalousienmotor laufen, der die Holzrahmen langsam nach oben zog. Was sich ihr offenbarte, ließ ihr Blut in den Adern gefrieren. Ein langer, schattenhafter Arm, wie eine deformierte Version eines Baumastes, klopfte mit vielen kleinen, knöchernen Fingern an das Glas. Und das Gesicht dahinter, unbeschreiblich. Sie stieß einen Schrei aus und sprang zurück.

Sie drückte sich in die Ecke ihres Raumes, nicht fähig wegzuschauen. Die Kreatur draußen sah sie an, mit leeren, schwarzen Augen. Im Hintergrund, fast unsichtbar hinter den geisterhaften Erscheinungen, glühte der Mond bedrohlich rot. Der Blutmond. Ihre Großmutter hatte immer behauptet, dass in der Nacht des Blutmondes schreckliche, übernatürliche Kreaturen zu ihnen zurückkehren, doch sie hatte das nie ernst genommen. Bis jetzt.

Morgan schluckte ihren Schrecken herunter und versuchte, ihre Stimme wiederzufinden. Langsam erhob sie sich von der harten Holzbodenkante und trat einen Schritt vor. „Was willst du von mir?“ stieß sie hervor. Die Kreatur neigte seinen schattigen Haupt und die schwarzen Augen hoben sich ein Stück an, als ob sie über ihre Frage nachdachte. Dann formte sie mit ihren verdrehten, knöchernen Fingern ein unheimliches Symbol gegen die Scheibe.

Entsetzen und ungläubige Faszination kämpften in Morgan. Sie holte tief Luft und überlegte an alle Symbolen, die ihr Großmutter ihr beigebracht hatte. Sie konzentrierte sich auf das gruselige Gebilde vor ihr und plötzlich erkannte sie es. Eine Warnung. Das Symbol ihrer Familie mit einem durchgestrichenen Kreis. Es war eine Warnung von jenseits der dunklen Sterne. Sie sollten fliehen.

Die Kreatur verschwand so plötzlich, wie sie erschienen war, zurück in die Nacht. Morgan hob zitternd ihr Handy auf und wählte die Nummer ihrer Mutter. Keine Gnade für den Schlaf an diesem Abend. Die Warnung des Blutmondes bezeugte ihre größte Angst: Sie waren nicht alleine, und etwas Böses kannte ihren Namen.

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