jeden Tag eine Geschichte
Rache der Ahnen

Rache der Ahnen

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Simon hatte immer geliebt, was modern und technisch fortschrittlich war. Die alte Familienhütte war überhaupt nicht sein Ding, doch er hatte keine andere Wahl. Nach dem Tod des Großvaters lag die Schlüsselgewalt nun in seinen Händen. Die Hütte war seit Jahrzenten unbewohnt und verfallen. Ein möglicher Käufer war interessiert, aber er wollte zuerst Fotos der Inneneinrichtung sehen, bevor er ein Angebot abgeben würde.

Bei dem Gedanken, alleine in diese Hütte zu gehen, stieg Unbehagen in ihm auf. Doch der finanzielle Zufluss war zu verlockend. Mit einem leichten Zögern öffnete er die altersschwache Eingangstür und betrat die Hütte. Ein muffiger Geruch drang ihm in die Nase und er hustete leicht.

Im Schummerlicht betrachtete er die alten Familienportraits, die an den Wänden hingen. Von den mächtigen Vorfahren, die stoisch und ernst dreinblickten, stieg ein unbehaglicher Hauch vergangener Zeiten auf. Eine Kälte kroch in seine Knochen, die sich nicht allein durch die fehlende Heizung erklärte. Als er mit der Kamera in der Hand den verstaubten Korridor betrat, hörte er ein Flüstern. Ein leises, kaum zu identifizierendes Geräusch, das aber dennoch klar und deutlich in Simons Ohren drang. Er zuckte zusammen, drehte sich um, doch da war nichts.

Schnell schüttelte er den Kopf und begann zu fotografieren. Jedes Mal, wenn das Blitzlicht aufleuchtete, schienen die Räume für einen Moment ihr altertümliches Geheimnis preiszugeben. Doch als er die Fotos später auf seinem Handy betrachtete, erstarrte er. Auf jedem einzelnen Bild waren schemenhafte Gestalten zu sehen. Sie schienen aus dem Nichts aufzutauchen und dann wieder zu verschwinden, fast als ob sie ein verstecktes Leben hinter den Kameralinsen führten.

Eine abgrundtiefe Panik ergriff ihn. Das Gefühl, beobachtet zu werden, wuchs mit jeder Sekunde. Das Flüstern war nun lauter, fordernder. Die Stimmen schienen ihm etwas mitteilen zu wollen, doch er konnte sie nicht verstehen. Das Haus schien plötzlich mit Energie aufgeladen zu sein, als ob jedes seiner Moleküle vibrierte. Simon fing an zu rennen, doch jede Tür, die er öffnete, führte nur zu einem weiteren Korridor. Die Portraitbilder der Ahnen starrten ihn von den Wänden herab an. Der Entsetzensausdruck in ihren Augen glich dem seinen.

Nach einer Ewigkeit fand er endlich den Ausgang und stürzte hinaus in die kalte Nacht. Seine Atmung ging stoßweise, sein Herz schlug bis zum Hals. Völlig erschöpft blieb er liegen, bis das Grauen des Hauses endlich hinter ihm lag. Doch das Foto auf seinem Handy, mit den schemenhaften Gestalten, nahm er als beängstigende Erinnerung mit nach Hause.

Seit jener Nacht träumte Simon immer wieder von der Familienhütte und seinen Ahnen. Sie flüsterten unverständlich und zeigten auf ihn mit ausgestreckten Fingern. Jede Nacht wurde der Traum intensiver, realer. Simon konnte ihre bittere Enttäuschung und ihren Zorn spüren, aber er konnte den Grund nicht verstehen. Bis es eines Nachts zu spät war. Die Polizei fand Simon in seinem Apartment, das Gesicht weiß vor Schrecken erstarrt und auf seinem Handy das letzte Bild einer Familienhütte, mit zornigen, rachsüchtigen Geistern, die offensichtlich zu Simons Ahnen gehörten. Der mächtige Ausdruck ihrer Gestalten und der Sehnsucht in ihren Augen machten den Betrachter sprachlos und ließen jeden Zweifel an der Tatsächlichkeit ihres schrecklichen Racheakts schwinden.

Seitdem steht die Familienhütte leer, und die Geschichten, die man sich erzählt, sind weit entfernt von Simons moderner Welt. Aber sie sind da, in den nächtlichen Stille, hört man noch immer das Flüstern der Ahnen, deren Zorn und Rache durch die Jahrhunderte hindurch hallt. Denn, wie Simon auf die harte Weise herausfand, verblasst die Vergangenheit vielleicht, aber sie verschwindet nie ganz und gerne gänzlich.

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