Die dichte Nebelbank zog auf wie eine weiße Welle und verschlang das kleine, moderne Städtchen Clayton im Nu. Niemand, der Clayton einmal erlebt hatte, hatte je so einen Nebel gesehen. Das kalte Grau hüllte Gebäude, Bäume und Menschen ein und verschluckte den Lärm aller Bewegungen.
Daniel, ein junger Mann voller Neugier und Abenteuerlust, stand am Fenster seines hohen Apartments und beobachtete fasziniert das einnehmende Schauspiel. Die Straßen wirkten in der undurchdringlichen weißen Masse fremd und beängstigend still. Doch anstatt Angst zu empfinden, wurde Daniel von dem Mysterium angezogen.
Sofort zog er seine Jacke über und trat in das neblige Unbekannte hinaus. Der Nebel war feucht und kalt, er schmeckte nach Herbst und ließ Daniel sofort frösteln. Doch er ließ sich davon nicht abbringen und trat beherzt weiter in den aschfarbenen Dunst. Unter seinen Füßen knirschte das Laub, der einzige vernehmbare Laut in der gespenstischen Stille.
Je weiter er in das Herz des Nebels vorstieß, desto weiter schien sich Clayton von ihm zu entfernen – die Lichter der Stadt erloschen hinter einem Vorhang aus Dunst, sein Heim wurde zu einer fernen Erinnerung. Die Welt war jetzt nur noch ein grau-weißes Spektrum und seine Füße auf dem gefrorenen Boden. Es war, als würden Zeit und Raum verschwimmen.
Plötzlich vernahm Daniel ein leises Flüstern. Er konnte keine Worte ausmachen, es war wie ein Windhauch auf seiner Haut, ein Raunen durch die Stille. Es war fast schon zu leise, um es wahrzunehmen. Aber es war ausreichend, um seine ganze Aufmerksamkeit zu beanspruchen. Er lauschte, drehte sich um sich selbst, wollte die Quelle des Geräuschs ausfindig machen.
Als sich das Flüstern zu einem summenden Chor steigerte, schien es aus seiner eigenen Brust zu dringen, das geschwätzige Murmeln eines fremden Herzens war zu vernehmen. Erschrocken, doch fasziniert, riss Daniel die Jacke auf und entdeckte in seinem Brustkorb ein pulsierendes, leuchtendes Herz, das scheinbar aus dem Nebel selbst erschaffen und zu ihm gehörend war.
Daniel stolperte zurück, Gefühle von Panik und Schrecken schlugen Wellen. Doch das Herz hörte nicht auf zu leuchten, schlug weiter in rhythmischen Stößen. Das Chor der Stimmen wurde lauter, deutlicher und dann verstand er sie. Sie erzählten von Leid und Verlust, von Liebe und Hoffnung, allen menschlichen Erfahrungen und Emotionen. Daniel brach zusammen, während der Chor der Stimmen verstummte.
Der Nebel begann sich langsam aufzulösen und mit ihm Daniels Bewusstsein. Das letzte, was er sah, war das Leuchten seines nebelhaften Herzens, das langsam in seinem Brustkorb erlosch. Als er wiedererwachte, befand er sich zurückerwartet in seinem Apartment, sein Herz schlug in dem gewohnten Takt. Daniel stand auf und ging zum Fenster, auf den Straßen war von dem Nebel nichts mehr zu sehen.
War es nur ein Traum gewesen? Oder hatte er das wahre Wesen des Nebels ergründet? Jedes Mal wenn ein Nebel in Clayton aufzieht, verschließt Daniel nun verschreckt die Fenster und Türen seines Hauses. Aber wenn die Stille des Nebels durch das Rauschen der Blätter durchbrochen wird, legt er manchmal die Hand auf sein Herz und hört den leisen Chor wieder singen.
Das Herz des Nebels schlägt immer noch in ihm und trotz der Angst vor dem unbekannten und des Schreckens, den der Nebel in ihm ausgelöst hat, sehnt er sich nach der gespenstischen Stille und dem leise flüsternden Chor. Und doch muss er sich fragen: Ist er noch derselbe Daniel wie zuvor, wenn das Herz des Nebels in ihm schlägt? Daniel mag nie wieder den Nebel betreten, aber er hat einen Teil davon in sich behalten.