Lara war sich nicht ganz sicher, wann sie die Stimmen zum ersten Mal gehört hatte. Sie waren geflüstert, kaum hörbar und immer ganz in der Nähe, aber nie zur selben Zeit, und immer wenn sie ungestört war. Sie erschreckten sich nicht vor diesen Stimmen. Immerhin schien niemand sonst sie wahrzunehmen.
Sie hatte versucht, anderen davon zu erzählen, Erwachsenen, Lehrern, Freunden – aber sie lächelten nur müde und sagten, das sei alles nur ihre Fantasie. „Das Leben ist manchmal beängstigend, Lara“, sagten sie. „Und manchmal manifestiert sich diese Angst auf unerwartete Weise.“
Und eigentlich war Lara auch nicht wirklich beängstigt. Es war nur… ungewöhnlich.
Die Stimmen sagten nie etwas Bedrohliches. Sie erzählten ihr von ihrer Umgebung, von den Dingen um sie herum, von der Natur, von Menschen und Tieren. Und irgendwie fühlte sie sich von ihren Flüsterern getröstet, obwohl sie nicht wusste, woher sie kamen oder zu wem sie gehörten.
Bis eines Tages, an ihrem 16. Geburtstag. Sie hatte gerade geduscht und war dabei, sich die Haare zu kämmen, als sie eine Stimme hörte – klar und deutlich und direkt an ihr Ohr gerichtet: „Gefahr.“
„Was?“ Lara hatte sich umgesehen, aber da war niemand. Die Stimmen waren leiser geworden, fast zu einem Summen in ihrem Hinterkopf. Und dieses Summen sagte immer wieder „Gefahr“. Lara spürte eine Gänsehaut am ganzen Körper heraufziehen. Etwas stimmte nicht. Aber was?
Am nächsten Tag schwebte die Warnung immer noch in ihrem Kopf herum. Und dann, als sie zur Schule ging, spürte sie einen harten Stoß auf ihrer Schulter und sah eine Autotür direkt vor ihr aufspringen. Erschrocken wich sie zurück, ihr Herz klopfte.
Die Stimmen hatten recht gehabt.
Von da an hörte Lara immer auf die Stimmen. Sie hatte gelernt, dass sie sich darauf verlassen konnte – dass die Stimmen mehr sahen, als sie tun konnten. Doch eines Nachts wollten sie Lara etwas Unglaubliches mitteilen. Sie flüsterten ihr zu, sie solle sich unter dem Bett verstecken. Mit angehaltenem Atem tat sie, was die Stimmen ihr befahlen. Und während sie dort verharrende, hörte sie, wie die Tür zu ihrem Schlafzimmer aufging.
Der stille Eindringling kroch in Laras Zimmer, ging zu ihrem schlafenden Körper im Bett und… nichts. Nach einer weile ging der Eindringling wieder. Lara fasste erst danach den Mut auf, sich wieder hervorzutasten, ihr herz raste, sie schwitzte, aber sie war unversehrt.
Am nächsten Tag brachten die Nachrichten die Horrorgeschichte eines Serienkillers, der in der Nacht zuvor mehrere Häuser in ihrer Nachbarschaft besucht hatte. Und Lara wusste, dass sie nur dank der Stimmen noch lebte.
Die Stimmen waren ein Teil von ihr geworden, ihr Schutz, ihre verborgenen Beschützer. Sie forderten nie etwas im Gegenzug. Sie waren einfach da, eine ständige Präsenz.
Wer waren diese Stimmen? Woher kamen sie? Und warum beschützten sie sie? Fragen, auf die Lara keine Antworten hatte. Aber eines wusste sie sicher: Sie würde immer auf sie hören, egal was kam. Sie hatte keine andere Wahl. Und sie würde sich immer fragen, ob die Stimmen nur sie beschützten oder ob sie noch jemandem zur Seite standen. Ein Gefühl von Unbehagen kroch in ihr hoch, als sie zum ersten Mal ernsthaft darüber nachdachte.