jeden Tag eine Geschichte
Vor dem Abgrund

Vor dem Abgrund

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Regen peitschte gegen das Panoramafenster des stählernen Hochhauses, in dem Jayden eine Dachboden-Wohnung gemietet hatte. Er saß an seinem Schreibtisch, starrend auf seinen Laptop, als eine neue E-Mail in seinen Posteingang flatterte.

Der Betreff lautete „Vor dem Abgrund“. Es war von einem unbekannten Absender. Jayden hatte zunächst gezögert, doch die Neugierde siegte. Als er die E-Mail öffnete, wurde sein Bildschirm schwarz und weiße Zahlen begannen, in einem Muster zu fließen, das er nicht dechiffrieren konnte. Die Zahlen bewegten sich schneller und schneller, als wären sie in einem unkontrollierbaren freien Fall. Dann… Stille. Sein Bildschirm wurde schwarz.

Ein seltsames Gefühl der Leere durchzog den Raum und er spürte, wie sich die Haare auf seinen Armen aufstellten. Wiederbelebt, schoss der Bildschirm plötzlich zu Leben und zeigte ein Live-Feed-Fenster, das auf seinen Balkon gerichtet war.

Im Regen, an seiner Balkonkante, stand ein Mensch. Ein schwarzer Schatten, der in der Dunkelheit des Abends kaum auszumachen war. Der Angstschweiß brach ihm aus und er spürte, wie sein Herz gegen seine Brust hämmerte. Jayden rannte zum Balkon, riss die Tür auf, doch niemand war dort. Ein leeres Geländer, kein Schatten.

Er drehte sich um, um seinen Laptop zu sehen, und das Live-Feed-Fenster war noch immer geöffnet. Der Schatten-Mensch stand immer noch dort, mitten im Regen, an der Kante seines Balkons. Es sah so aus, als würde das Wesen direkt auf die Kamera, auf ihn, starren.

Verängstigt ging Jayden zurück zu seinem Laptop und probierte den Live-Feed zu schließen, doch nichts funktionierte. Absolut nichts. Der Laptop reagierte nicht. In einem Versuch, den Strom zu unterbrechen, riss er das Ladekabel aus der Steckdose, aber der Bildschirm blieb erleuchtet. Der Schatten stand immer noch dort.

Der Hass in Jays Augen wich purer Angst, als der Schatten seine Hand hob und zeigte, mit einem einzigen Finger auf Jayden gerichtet.

In diesem Moment fiel das Licht in seiner Wohnung aus. Ein lautes Zischen durchzog den Raum und die Dunkelheit wurde nur noch von dem bläulichen Schimmer seines Laptopbildschirms unterbrochen. Der Schatten-Mensch war verschwunden.

Als das Licht wieder anging, war sein Laptop ausgeschaltet und die E-Mail spurlos verschwunden. Jayden hatte etwas erfahren, wovon er hoffte, nie wieder daran erinnert zu werden. Doch was war das? Und was wollte es von ihm?

Die nächsten Tage waren geprägt von Schlaflosigkeit und Paranoia. Jedes nachklingende Geräusch liess Jayden zusammenzucken und an das ominöse Wesen denken, das ihm so Schrecken versetzt hatte. Die plötzliche Dunkelheit, der stumme Zeiger, das wesenhafte Wesen – all diese Erinnerungen füllten seine Tage mit Unruhe und seine Nächte mit Albträumen.

Jayden war sich sicher, dass er vor einem Abgrund stand. Einen, den er weder sehen noch verstehen konnte. Das Leben, wie er es kannte, war vorbei. Aber was genau hatte ihm das Wesen offenbaren wollen? Oder hatte es doch nur Chaos geschaffen, mit dem Ziel, ihn an den Rand des Wahnsinns zu treiben?

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