Anna schlich sich still ins Badezimmer. Sie zog eine kleine, batteriebetriebene Kerze aus ihrer Tasche und stellte sie auf die glänzende Oberfläche der Waschbeckenplatte. Sie blickte sich nervös im Spiegel an. Die flackernde Flamme verwandelte ihr Gesicht in eine Kaskade von Licht und Schatten, was sie noch furchterregender erscheinen ließ.
Sie hatte heute das alte Spiel „Bloody Mary“ erwähnt und die albernen Geschichten ihrer Freunde gehört. Nur ein Spiel, nichts weiter. Aber jetzt in der Dunkelheit, mit der Kerze und dem Spiegel, begann Annas Herz schneller zu schlagen. Ein kalter Schauder rann über ihren Rücken.
Zögerlich begann sie, dreimal „Bloody Mary“ zu flüstern. Bei der dritten Wiederholung, veränderte sich das Licht. Ihre Reflexion im Spiegel begann zu flimmern, zu tanzen, sich zu verwischen, als würde sie durch einen verzerrten Fernsehfilter betrachtet. Panik schnürte ihr die Kehle zu, obwohl jeglicher vernünftiger Teil ihres Gehirns ihre Angst vor diesem kindischen Aberglauben verwarf.
Das war es, sie konnte sich selbst im Spiegel nicht mehr klar erkennen. Ihr Herz hämmerte wie wild und sie packte den Rand des Waschbeckens, bis ihre Knöchel weiß wurden. Ihr Spiegelbild verschwamm weiter, wie Aquarellfarbe, die auf nasses Papier tropft. Sie sah zu, wie ihr Gesicht sich verzerrte und dann … verschwand.
Alles, was übrig blieb, war eine leeres, schwarzes Loch, das anstelle ihrer Reflexion im Spiegel war. Und dann hörte sie eine Stimme.
Ihr eigener Name, geflüstert aus einer unbekannten Quelle. Sie spürte eine Hand auf ihrer Schulter, kalter als der Tod, und drehte sich um. Nichts war da. Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar, ihr Verstand rannte. Sie blickte wieder in den Spiegel und sah sich selbst dort stehen.
Nicht die verzerrte, undeutliche Gestalt von vorher, sondern eine klares, scharfes Bild von sich. Sie atmete erleichtert aus und lachte über sich selbst. Doch der Lachanfall wich schnell der Furcht, als sie erkannte, dass das Spiegelbild nicht ihre Bewegungen nachahmte. Es stand einfach nur da, stumm und unbewegt, und starrte sie mit leeren Augen an.
Sie wich zurück, schrie und rannte zur Tür. Aber als sie den Griff berührte, fand sie ihn kalt und bewegungslos. Die Tür ließ sich nicht öffnen. Sie schlug mit den Fäusten dagegen, doch sie gab nicht nach. Anna drehte sich um und sah, wie sich ihr Spiegelbild langsam zu einem schiefen, grausamen Grinsen verzog.
Von da an begann das Spiel wirklich. Es war kein Spiel mehr. Mit jedem leisen Flüstern, mit jeder kalten Berührung, die sie fühlte, wurde ihr klar, dass sie nicht allein war. Sie war gefangen. Nichteinmal schreien konnte sie. Niemand würde sie hören. Niemand würde kommen, um sie aus dieser stetig wachsenden Finsternis zu befreien.
Und so blieb sie allein, verloren. Im Spiegel. Ihr einziges Fenster zur Außenwelt war nun die Beobachtung ihres eigenen, sich immer wieder selbst gruselnden Spiegelbilds. Jedes Echolachen, jede Bewegung steigerte nur weiter die Beklemmung und das Gefühl des Alleinseins.
Man sagt, wenn man heute ihr verlassenes Haus besucht und genau hinsieht, kann man im Badezimmerspiegel ein Mädchen sehen. Anna, gefangen in ihrem eigenen Spiegelbild, verbunden mit der Welt nur durch einen Spiegel. Immer wartend. Immer flüsternd. Wer wagt es, das Spiel zu spielen?